Stiftung LEBENSNERV,
FORUM PSYCHOSOMATIK 1/99

»Bitte hört euch an, was MS-Betroffene Menschen zu sagen haben, und seid offen für ihre Gedanken.« (N.W.)

Vermutungen über mögliche Ursachen der MS aus der Sicht von Betroffenen - Ergebnisse einer Internet-Recherche

von Klaus Heutmann

Teil 1 von 4 Teilen

Übersicht

Teil 1 Einleitung
Teil 2 1. Ohne menschliche Einflußnahme
2. Aktives Eingreifen in das Körpergeschehen
3. Umwelteinflüsse
Teil 3 4. Verlorene innere Balance
Teil 4 Literatur
Angaben zum Autor

 


Einleitung

Wohl alle Menschen, die sich mit einer folgenschweren Krankheit auseinandersetzen, stellen sich gerade am Anfang die Frage »Warum gerade ich?« oder »Was habe ich falsch gemacht, daß alles so kommen mußte?«. Auf ganz eigene Weise läßt man seine Lebensgeschichte Revue passieren und versucht, den besonderen Ursachen der eigenen Erkrankung auf die Spur zu kommen. Dieser Weg kann dahin führen, eine offene Haltung zu seinem Schicksal zu finden, es zu akzeptieren und dadurch das veränderte Leben neu aufzubauen.

Unter dem Oberbegriff Coping schenken Psychologinnen und Psychologen aber auch engagierte Ärztinnen und Ärzte solchen individuellen Erklärungsmustern Beachtung, zumal diese ein umfassenderes Verständnis des einzelnen Betroffenen eröffnen können. Im wissenschaftlichen Sprachgebrauch nennt man sie »subjektive Krankheitstheorien« oder »Laienätiologien«. Sie lassen sich beschreiben als »die gedanklichen Konstruktionen Kranker über das Wesen, die Entstehung und die Behandlung ihrer Erkrankung« (Faller, 1993). Der Schwerpunkt liegt dabei auf den aktiven Bewertungs- und Verarbeitungsprozessen. Aktive Krankheitsverarbeitung kann so vor allem bedeuten, die Belastungen durch die Erkrankung so gering wie möglich zu halten und ihre Auswirkungen in eine positive Richtung zu lenken.

Die persönlichen Vorstellungen über die Krankheit und ihre Entstehung sind Teile eines übergeordneten Bewältigungsstils, den jeder im Laufe seines Lebens als für seine Person am geeignetsten herausbildet. Die individuell bevorzugten subjektiven Theorien haben schon deshalb einen engen Bezug zur Lebens- und Familiengeschichte und können aus dieser heraus verstanden werden (Bauer-Wittmund, 1996).

Gerade vor diesem Hintergrund kann wiederum der Begriff Laienätiologie meiner Ansicht nach irreführend sein: Wer, wenn nicht die Betroffenen selbst, sind die Profis ihrer eigenen Subjektivität? Doch sie werden viel zu selten gehört und wahrgenommen. In einem neuen Kommunikationsmedium, dem Internet melden sie sich jetzt zu Wort.

»Danke für die Gelegenheit, meiner Meinung Ausdruck verleihen zu können.« F. G.

Mit diesen Worten bedankt sich eine Frau dafür, ihre persönlichen Gedanken über die Entstehung ihrer MS der »Weltöffentlichkeit« mitteilen zu können - per Internet.

Das Internet bietet immer mehr Menschen ein Forum für ihre individuellen Interessen. Hier besteht die Möglichkeit, sich über den Computer bequem von zuhause aus zu informieren, selbst Informationen für andere zu hinterlegen oder per Mausklick mit Gleichgesinnten in Kontakt zu treten.

Unter dem Stichwort »Multiple Sklerose« findet sich - je nach verwendeter Sprache weltweit - eine Fülle sogenannter Homepages zu den unterschiedlichsten Themenschwerpunkten. Auf einigen von ihnen steht den »Besuchern« zusätzlicher Raum zur Verfügung, in dem diese sich aus ihrer persönlichen Perspektive zu speziellen Fragestellungen äußern und untereinander austauschen können. Das vielfach rein medizinisch orientierte Informationsangebot wird so um den oft vernachlässigten Bereich der subjektiven Sicht von Betroffenen erweitert.

Nach meinen Recherchen bietet insbesondere die International MS Support Foundation (IMSSF) in den USA vor allem ihren Internet-Besuchern, die von MS betroffen sind, und deren Angehörigen ein spezielles Forum: »Ich kenne niemanden mit MS und keinen Familienangehörigen, der keine Vorstellungen über die Ursachen der Krankheit hat, die ihrer aller Leben veränderte. Wenn Sie Ihre Gedanken mitteilen möchten, schicken Sie mir Ihre Email.« Dieser Aufforderung, die eigene Sicht auf die persönliche Krankheitsentstehung in Worte zu fassen und via Email für viele andere Interessierte zu veröffentlichen, kommen offenbar einige Menschen gerne nach: Ende Januar 1999 lagen auf dem Server der IMSSF 45 schriftliche Äußerungen von MS-Betroffenen bzw. deren Angehörigen abrufbereit. Darunter befanden sich 35 kürzere Statements und zehn etwas längere Beiträge. Die Texte stammten zu fast zwei Dritteln von Frauen, was interessanterweise in etwa der Häufigkeitsverteilung der MS auf die Geschlechter entspricht. Sie können diesen Server unter folgender Internet-Adresse aufrufen:

http://aspin.asu.edu/MSnews/MStheories.htm/

Es sei vorausgesetzt, daß sich unter den dortigen Beiträgen ausschließlich solche befinden, die sich aus einer ernsthaften Auseinandersetzung der jeweiligen Autoren mit der multiplen Sklerose entwickelt haben. Gerade in solchen Internet-Foren mit unseriösen Texten konfrontiert zu sein, kann als eher unwahrscheinlich eingestuft werden. Diese Einschätzung stützt sich zum einen auf die »Netikette«Fussnote-hin. Zum anderen aber auch darauf, daß hier ein Beitrag erst nach Nennung des Namens an den Verantwortlichen und dann nur in Verbindung mit der Email-Adresse veröffentlicht wird. Damit wird ein weiteres Anliegen solcher Foren erreicht: Besonders interessierte Leserinnen und Leser bekommen die Gelegenheit, selbst den Kontakt zu den Autoren herzustellen, um dann einen Austausch auch auf privater Ebene beginnen zu können.

Die wirkliche Einschätzung und Vergleichbarkeit der einzelnen Ausführungen ist nur eingeschränkt möglich - allein schon wegen der Einmaligkeit jedes einzelnen dahinterstehenden Lebenslaufes. Überdies werden genauere Angaben über z. B. das Alter der Betroffenen oder über den bisherigen Verlauf der jeweiligen Erkrankung zumeist nicht bekannt. Unter anderem auch deshalb wird im Anschluß an die Ausführungen darauf hingewiesen, daß diese ausschließlich als allgemeine Information gelten können und nicht als konkrete Ratschläge für individuell Betroffene.

Die Zusammenschau der vorhandenen Theorien gibt jedoch einen - vielleicht anregenden - Einblick in die je individuelle Art der Auseinandersetzung mit den vermuteten Ursachen derjenigen Menschen mit MS, die aktiv geworden sind und sich auf der Suche nach Erfahrungsaustausch mit ihren Gedanken an die Öffentlichkeit wenden.

»Ich glaube, verschiedene Ereignisse führten zu meiner gegenwärtigen Krankheit.« R. S.

Insgesamt zeichnen die Äußerungen von Betroffenen bzw. von Angehörigen ein vielfältiges Bild über die angenommenen Ursachen individueller Erkrankungen. Verschiedene führen ihre MS sogar auf mehrere Gründe zurück. Dennoch lassen sich grob vier unterschiedliche Bereiche erkennen, aus denen die Autoren ihr Erklärungspotential schöpfen:


Netikette: (aus Internet und Etikette) Allgemein verbindlicher ungeschriebener Verhaltenskodex für den Aufenthalt im Internet. Fussnote-zurueck

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