Stiftung LEBENSNERV,
FORUM PSYCHOSOMATIK 1/99

Teil 3: "Vermutungen über mögliche Ursachen der MS aus der Sicht von Betroffenen - Ergebnisse einer Internet-Recherche" von Klaus Heutmann

4.Verlorene innere Balance

In der letzten Gruppe der subjektiven Theorien von MS-Betroffenen steht die Haltung des Einzelnen zu sich und zu seiner Umgebung im Vordergrund der Betrachtung. Ihnen zufolge liegt in den Betroffenen selbst der Schlüssel zur Entstehung ihrer MS, weil sie wegen unterschiedlicher Gründe aus ihrem inneren Gleichgewicht geraten sein könnten. Das besondere an diesen Erklärungsmustern ist, daß sie den jeweiligen Betroffenen Ansatzpunkte für Wege aufzeigen können, ihre verlorene Balance wieder aktiv anzusteuern: »Ich bin zu dem Schluß gekommen, daß viele Krankheiten, die die Menschheit quälen, Zivilisationskrankheiten sind und daher rühren, daß wir uns von der wesentlichen Energie abwenden, die in den Zellen des pflanzlichen Lebens auf diesem Planeten gespeichert ist.« (S. L.). Die hier zitierte Betroffene beschreibt sich als mittlerweile strikte Vegetarierin und führt ihre gegenwärtige Symptomfreiheit vor allem auf ihre veränderten Einstellungen und Ernährungsgewohnheiten zurück.

Einen Zusammenhang zwischen Beeinträchtigungen des psychischen Wohlbefindens und der Entstehung von MS sehen einige Betroffene eher unspezifisch im Streß: »Der einzige und wichtigste Grund meiner MS ist Streß, Streß und nochmals Streß« (M. Z.). Lediglich ein Betroffener zieht explizit die Möglichkeit in Betracht, MS sei eine »psychologische« Krankheit. Konkrete psychogene Ursachen spricht allerdings auch er nicht an. Diese lassen sich in einigen Beiträgen - wenn überhaupt - auch nur hinter vereinzelten und nicht näher beschriebenen Äußerungen vermuten, wenn man diese als Andeutungen auf dahinterliegende Problemstrukturen versteht. So blickt z. B. eine Betroffene auf eine Kindheit »unter ständigem Streß« zurück und erwähnt, diese mit einem alkoholkranken Vater verbracht zu haben.

Schließlich wird in einer Betrachtung die Frage aufgeworfen, ob organische Schädigungen an Gehirnen körperlich mißhandelter Kinder die Entstehung von MS begünstigen können. Der Autor bzw. die Autorin macht keinerlei persönliche Angaben und läßt auch offen, ob er bzw. sie selbst betroffen ist. Vor diesem sachlich-distanzierten und unpersönlichen Hintergrund kontrastiert der Apell im letzten Satz des Beitrages so stark, daß ich ihn zum Leitzitat meines Artikels ausgewählt habe: »Bitte hört euch an, was MS-betroffene Menschen zu sagen haben, und seid offen für ihre Gedanken.« (N. W.).

»...gebt nicht auf, wir alle kämpfen diesen Kampf gemeinsam.« K. Ch.

Die Antwort auf die Frage nach möglichen Krankheitsursachen beinhaltet auch Hinweise darauf, inwieweit die einzelnen Betroffenen glauben, sie selbst oder andere hätten die Entstehung der jeweiligen MS verhindern können. Dabei kann es vorübergehend entlastend sein, nicht nur eine Erklärung sondern gleichsam auch einen »Schuldigen« gefunden zu haben. Unter diesem Aspekt lassen sich die vorgestellten subjektiven Theorien nach dem Grad der eigenen Kontrolle unterscheiden, den die Betreffenden zunächst an der Entstehung ihrer MS zu haben meinen:

So gut wie keinen Einfluß kann man auf die Entstehung und den Verlauf von Erkrankungen nehmen, die einigen Vermutungen nach durch Infektionen, bestimmte genetische Voraussetzungen oder allgemein durch eigendynamische biologische Prozesse hervorgerufen wurden.

Die persönliche Verantwortung ist ebenfalls für die unterstellten unerwarteten negativen Folgen von medizinischen Eingriffen sehr gering. Erst aus der heutigen Vermutung heraus hätte man sich der - auch vom Mediziner - im besten Glauben durchgeführten Intervention besser nicht unterzogen. Zu dem Zeitpunkt sind aber keinerlei Risiken absehbar gewesen, und deshalb wäre eine personelle Schuldzuschreibung nicht stichhaltig.

Auch Theorien, in denen Umweltbelastungen als Ursachen für die MS herangezogen werden, beinhalten kaum eine Möglichkeit der individuellen Einflußnahme. Allenfalls können plakative Verursacher von Umweltschäden (chemische Industrie, Kraftwerksbetreiber etc.) fixiert werden. Die vermutete generelle Verantwortlichkeit für die Erkrankung liegt also hier wie auch in den beiden vorangegangenen Gruppen größtenteils außerhalb des Zuständigkeitsbereiches der jeweiligen Betroffenen.

Anders ist die Situation bei Theorien, in denen die Betroffenen einen Zusammenhang zwischen Belastungen ihrer Person und der MS-Entstehung herstellen. Unabhängig davon, welche Umstände oder auch wen man wiederum als ursächlich für die Belastungen annimmt, sehen die Betroffenen einen Schlüssel für die MS und deren Folgen letztlich in sich selbst. Diese Haltung kann lange Phasen des Grübelns nach sich ziehen, muß aber nicht in zermürbenden Selbstvorwürfen enden. In einer Studie, die Faller (1993) zusammen mit Krebspatienten durchgeführt hat, zeigte sich zwar, daß diejenigen Befragten, die einer eher psychosomatisch orientierten Ursachentheorie folgen, vielfach eine erhöhte emotionale Belastung angeben. Doch mit diesem Zusammenspiel geht in der Regel eine erhöhte Bereitschaft einher, mit Rat und Unterstützung von anderen, die eigene Identität in den Vordergrund zu stellen und lebbare Veränderungen für die eigene Zukunft herbeizuführen: »Meine MS wurde 1980 diagnostiziert, im heißen, heißen, heißen 1980 - und ich hatte davor viele Symptome. Ich weiß, was es heißt zu verleugnen und ich weiß, was es heißt, »Nein« zu sagen. Verleugnen bedeutet, eine Lüge zu leben, so zu tun, als ob etwas der Fall wäre, was es tatsächlich nicht ist - oder umgekehrt. »Nein« zu sagen heißt für mich, TROTZ der schlechten Voraussetzungen zu leben - in der Lage zu sein, sich im Spiegel anzublicken, buchstäblich oder bildlich, und zu sagen DAS BIN ICH. Und was soll das alles? Na, lassen Sie uns alle lieber »Nein« sagen, anstatt uns zu verleugnen.« W. D.

Bei der Suche nach dem eigenen Standpunkt kann es vielleicht anregend sein, sich auch mit den Gedanken anderer Betroffener zu beschäftigen und die eigene Geschichte mit denen der anderen zu vergleichen. Sei es anfänglich anonym über das Internet oder im persönlichen Kontakt mit den Menschen in der direkten Umgebung.

Mit einer veränderten Perspektive lassen sich die emotionalen Belastungen reduzieren, denen schließlich nicht nur diejenigen Betroffenen ausgesetzt sind, die die Ursachen ihrer MS innerhalb der eigenen Person zu finden glauben. Auf dem Weg hin zu einer spürbaren Entlastung kann es sich für manche Betroffene anbieten, auch professionell beratende oder therapeutische Hilfe in Anspruch zu nehmen - ob aus akuter Verzweiflung heraus, oder um mit dieser Unterstützung leichter eine Struktur in das wachsende Gewirr unbeantworteter Fragen zu bringen

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