Stiftung LEBENSNERV,
FORUM PSYCHOSOMATIK 1/99

Teil 2: "Vermutungen über mögliche Ursachen der MS aus der Sicht von Betroffenen - Ergebnisse einer Internet-Recherche" von Klaus Heutmann

1. Ohne menschliche Einflußnahme

Die meisten Berichtenden sind der Ansicht, ihrer MS sei eine Beeinträchtigung körperlicher Abläufe vorausgegangen, die sich der direkten menschlichen Einflußnahme weitestgehend entzieht. In über der Hälfte der persönlichen Theorien wird vermutet, Infektionen unterschiedlichster Art hätten eine wesentliche Rolle bei der Entstehung der MS gespielt. Die Beteiligung von Herpes-Erregern halten einige von ihnen für sehr wahrscheinlich. Ebenso wird ein Zusammenhang mit Windpocken-Infektionen hergestellt. Auch andere Kinderkrankheiten, wie z.B. Masern Fussnote-hin werden bei der Suche nach Gründen in Betracht gezogen. Hinzu kommen Hepatitis, Streptokokken (insb. Rheumatisches Fieber) und undiagnostizierte juckende Bläschen. Die Zeitspanne zwischen dem Auftreten der als ursächlich angesehenen Infektion und dem Ausbruch der MS wird sehr unterschiedlich angegeben und variiert je nach Bericht von einer Woche bis hin zu mehr als 30 Jahren.

Diejenigen, die ausschließlich eine genetische Veranlagung für ihre MS vermuten, führen zur Begründung das Vorhandensein weiterer Betroffener in ihrem direkten familiären Umfeld an. Andere hingegen glauben, in der Genetik eher einen möglichen zusätzlichen Faktor zu erkennen, der erst in Verbindung mit einer oder mehreren anderen Bedingungen wirksam wird.

Eine Sonderstellung innerhalb dieser Berichte nimmt die Vorstellung eines MS-Betroffenen ein, der von einer außergewöhnlich starken statischen Aufladung seines Körpers mit elektrischer Energie überzeugt ist. Dieser Überschuß führe zu einer fortschreitenden Zerstörung der für dieses Potential nicht ausgelegten Isolierung seiner körpereigenen Nervenbahnen und damit zur MS. Einen gelegentlichen Zusammenbruch der von ihm am Arbeitsplatz genutzten Telephonanlage betrachtet er als die Folge spontaner Entladungen seiner ausgeprägten Energievorräte. Sein Immunsystem bezeichnet er als exzellent.

2. Aktives Eingreifen in das Körpergeschehen

In den bisher skizzierten Theorien wird die Ursache der individuellen MS grundsätzlich in Einflüssen vermutet, die ohne menschliches Zutun wirksam geworden sind. Daneben zeigt sich eine zweite Argumentationslinie, nach der aktives Eingreifen in das Körpergeschehen die Entwicklung der MS in Gang gesetzt hat. So wird unter anderem die Ansicht vertreten, Eingriffe in das ZNS (z. B. über Lumbalpunktionen) ermöglichten bestimmten Erregern die direkte Aggression. Andere vermuten, ihre MS habe sich infolge von Impfungen bzw. Allergie-Desensibilisierungen entwickelt. Diesen Vorstellungen nach können im so belasteten Immunsystem die bekannten schweren Fehlfunktionen resultieren.

Manchen Frauen gelten bestimmte Veränderungen innerhalb des weiblichen Hormonsystems als eine Antwort auf die Frage, warum Männer seltener von MS betroffen sind. Es wird von Erkrankungen berichtet, denen gynäkologische Behandlungen bzw. Östrogen-Therapien vorausgegangen sind (ohne allerdings auch hier einen kausalen Zusammenhang belegen zu können).

3. Umwelteinflüsse

Weniger der beabsichtigte Eingriff in das Individuum selbst, sondern vielmehr die durch den Menschen verursachte Beeinträchtigung seiner allgemeinen äußeren Lebensbedingungen ist Gegenstand von eher umweltbezogenen Theorien. Die meisten von ihnen sind sehr spezifisch. Hier resultiert die MS aus dem direkten Kontakt mit als schädlich eingestuften Substanzen oder Einflüssen. So zieht ein Betroffener ein Kindheitserlebnis als möglichen Auslöser in Betracht, bei dem er sich hinter einem LKW befand, der eine vermutlich chemische Substanz versprühte.

Die Wurzeln ihrer MS kann sich eine Verkäuferin im täglichen beruflichen Umgang mit handelsüblichen chemischen Produkten vorstellen. Sie beantwortet sich ihre Frage, warum gerade sie als einzige aus dem Kollegenkreis betroffen ist, mit der Annahme einer entsprechenden genetisch bedingten Anfälligkeit. Als »definitiv« registriert sie den Einfluß von 10 Substanzen auf die spontane Verschlechterung ihrer Symptomatik - und zwar schon bevor sie die Existenz dieser Substanzen in ihrer direkten Umgebung bewußt wahrnimmt.

Auch der Vater zweier MS-betroffener Töchter zieht eine Kombination von Ursachen zur Erklärung der Krankheitsgenesen heran: Der Wohnort der Familie befindet in einer der beiden Regionen der Vereinigten Staaten, in denen eine Häufung von MS-Fällen beobachtbar sei. Dies bringt der Mann in Verbindung mit Nachrichten über eine besonders hohe radioaktive Belastung genau dieser Gegend durch Atombomben-Tests in den 40er/50er Jahren. Aber er sieht noch einen zweiten Faktor als krankheitsvermittelnd an: Milch, insbesondere Rohmilch gelte als wichtiger Überträger der Radioaktivität auf den menschlichen Organismus. Weil er als Vater in gutem Glauben sehr darauf geachtet habe, seinen Kindern die vermeintlich gesunde Landmilch möglichst oft zum Trinken zu geben, seien sie den schädigenden Einflüssen in besonders starker Weise ausgesetzt gewesen und letztlich an MS erkrankt.

Historisch orientiert ist die Theorie, nach der das Krankheitsbild der MS sich überhaupt erst infolge der Elektrifizierung durch Hochspannungsleitungen habe entwickeln können. Die von ihnen ausgehenden starken elektromagnetischen Felder haben eine pathogene Wirkung, so die Hypothese, und haben auf diese Weise die bis dahin vermeintlich unbekannte Symptomatik entstehen lassen. Diesen Zeitpunkt sieht eine andere Vorstellung im Zusammenhang mit nicht näher spezifizierten Auswirkungen der »Industriellen Revolution«. Als Begründung wird auch hier angeführt, sie stehe in großer zeitlicher Nähe zu der Entdeckung und Dokumentation der MS. Allgemeiner gehalten ist auch die Theorie, die der generellen Zunahme von Umweltbelastungen einen Anstieg auch der Allergien zuschreibt. Diese wiederum sollen an der individuellen Auslösung von MS beteiligt sein.


Auf der Suche nach Erkenntnissen zum Einfluß von Masern auf die Genese von MS kann ein interessierter Blick nach Schweden gehen: Infolge einer Masern-Seropositivität der Bevölkerung von nahezu 100% seit 1985 sind von dort etwa bis 2010 Aussagen zu entsprechenden Effekten zu erwarten. Allerdings hat die Eindämmung von Infektionskrankheiten bislang insgesamt keine Wirkung auf die Zahl der Neuerkrankungen an MS gezeigt. (Sommer et al., 1996) Fussnote-zurueck

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