Stiftung LEBENSNERV,
FORUM PSYCHOSOMATIK 2/98

Teil 3: »Alles gleich gültig und nichts gleichgültig«Erzählen von Krankheit und Behinderung - von Gabriele Lucius-Hoene

Der Erzähler muß ständig Neues, Unvorhergesehenes, Ungeplantes in seinen Erzählprozeß mitaufnehmen und kann somit weit über das hinausgetragen werden, was vielleicht ursprünglich in einer bewußten Darstellungabsicht lag. Dies macht die autoepistemische (selbsterkennende, d.Red.) Funktion des Erzählens aus: die Tatsache, daß der Erzähler im Prozeß des Erzählens Neues über sich selbst erfährt.

Wie lassen sich nun diese Eigenschaften des Erzählens wissenschaftlich zugänglich machen? Der Schlüssel zum Erzählen als Herstellungsprozeß von Identität und biographischem Sinn, von Wirklichkeit und Intersubjektivität liegt neben der Analyse der Inhalte, des Was, vor allem in der Herausarbeitung des Wie, des sprachlich-interaktiven Herstellungsprozesses, der den Handlungscharakter des Erzählens offenbart. Voraussetzung für diese Arbeit ist die Möglichkeit, sich extensiv (ausführlich, d. Red.) mit dem transkribierten (aufgeschriebenen, d. Red.) Text der autobiographischen Erzählung zu befassen. Während wir in der alltäglichen Kommunikation schon aus ökonomischen Gründen sehr schnell davon ausgehen, den anderen verstanden zu haben und verstanden worden zu sein, vollziehen wir bei der Interpretationsarbeit im Hinterfragen des Textes genau das Gegenteil. Wir untersuchen ihn systematisch daraufhin, wie er realisiert wurde im Kontrast zu den sprachlichen Alternativen, die es auch gegeben hätte. Worauf verweist es, daß der Erzähler gerade dieses Thema im thematischen Möglichkeitsraum, diese Form der Darstellung im rhetorischen (rednerischen, d. Red.) Möglichkeitsraum gewählt hat und an dieser Stelle gerade so in der Erzählung fortgefahren ist? So läßt sich jeder Aspekt des Textes, von der übergreifenden Struktur bis zum Kleindetail sprachlicher Mittel auf seine implizierten (mitenthaltenen, d.Red.) Sinngehalte, Verweisungsbeziehungen und Handlungsorientierungen hin untersuchen: (...) wie der Erzähler seine Lebensgeschichte strukturiert, wie er begründet und argumentiert, mit welchen Beschreibungselementen er seine Welt und sich selbst darin darstellt, in welche Beziehung er sich zum Zuhörer oder anderen Personen seiner Erzählung setzt (Schütze 1984, 1987). Die Zahl der interpretativen Suchbewegungen und linguistischen (sprachwissenschaftlichen, d. Red.) Phänomene, die sich hier für die Analyse nutzen lassen, ist praktisch unbegrenzt (vgl.a. Riessman 1993). So erhalten wir schließlich eine expansive (ausgedehnte. d. Red.) Entfaltung der Sinnpotentiale des Textes, die vom Gesagten auf Mitgemeintes, also auch auf latente Inhalte und verdeckte Handlungsorientierungen verweist (Lucius-Hoene & Deppermann, in Vorb.).

Aus der Textoberfläche der einen, der manifesten Erzählung, lassen sich die vielen anderen entfalten, die als weitere Sinnhorizonte darin versteckt sind: die abgebrochenen, die nur angedeuteten, die widersprüchlichen, die vieldeutigen Erzählungen lassen sich aus ihren sprachlichen Indizien und Verweisungsbezügen herausarbeiten - eine Technik, die dem biblischen Exegeten (Textausleger, d. Red.) wie dem Literaturwissenschafter vertraut ist.

Beispiele für Erkenntnismöglichkeiten einer solchen Textbearbeitung möchte ich jetzt, wenn auch nur ansatzweise, anhand dreier Textausschnitte demonstrieren. Sie stammen aus autobiographischen Erzählungen von Männern, die im zweiten Weltkrieg eine Hirnverletzung erlitten, und ebensolchen Erzählungen ihrer Ehefrauen (Lucius-Hoene 1997).

Zunächst eine Metapher, die von mehreren Erzählern meines Textkorpus verwendet wird. Viele der Kriegshirnbeschädigten mußten sich aus diagnostischen Gründen einer Suboccipitalpunktion (Punktion am Hinterhaupt, d. Red.) unterziehen, wenn das Ausmaß ihrer Hirnschädigung durch eine sogenannte Pneumencephalographie (röntgenologische Darstellung der Flüssigkeitsräume im Gehirn nach Füllung mit Luft bzw. Gas, d. Red.) im Rahmen eines Rentenbemessungsverfahrens festgestellt werden sollte. Bei dieser Untersuchung wurde eine lange, dicke Nadel im Genick unterhalb des Hinterhauptsknochens eingeführt, etwas Gehirnflüssigkeit entnommen und statt dessen das kontrastgebende Gas eingeführt. Abgesehen von der psychischen Belastung zog der Eingriff häufig tagelange qualvolle Kopfschmerzen, ‹belkeit und Schwindel nach sich und war deshalb unter den Betroffenen gefürchtet. In den Erzählungen wird er häufig erwähnt und dabei als »Genickschuß« bezeichnet.

Diese Metapher (Bild, d. Red.) wird unmittelbar nahegelegt durch die Ähnlichkeit der Merkmale bzw. der Handlung: beidesmal wird bei einer dem anderen ausgelieferten Person ein gefährliches Objekt von hinten am gleichen anatomischen Ort eingeführt. Ihre Brisanz bekommt sie dadurch, daß sie durch die Übertragung einer Bedeutung aus einem Verwendungsbereich in einen anderen zwei Welten ineinanderfließen läßt: in die medizinische Welt des Helfens und Heilens bricht der Genickschuß als aggressiver, todbringender Akt aus der Welt des Krieges und der Gewalt ein. Mit einem Genickschuß manifestiert ein Mensch seine Macht über das Leben eines anderen, er ist der Akt der Liquidation eines Menschen, der sich nicht mehr wehren kann und nur noch Opfer ist. Ich denke, hier muß ich gar nicht ausführen, welche Implikationen der kollektive Gebrauch einer solchen Metapher durch die Kriegshirnverletzten hat, die sich mit ihrem Leiden oft sehr ohnmächtig einem medizinisch-administrativen Apparat ausgeliefert fühlten.

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