Stiftung LEBENSNERV,
FORUM PSYCHOSOMATIK 2/98

Teil 4: »Alles gleich gültig und nichts gleichgültig«Erzählen von Krankheit und Behinderung - von Gabriele Lucius-Hoene

Während so die kollektive, für diese Gruppe charakteristische Bedeutung des Begriffs nahezuliegen scheint, erfährt er jedoch in der individuellen Verwendung der jeweiligen Erzähler noch einmal ganz andere Nuancen, die auf je verschiedene Handlungsorientierungen der Betroffenen verweisen. Während die Metapher z.B. bei dem einen Informanten tatsächlich seine tiefe Kränkung durch die erfahrene Behandlung illustriert, setzt sie ein anderer Erzähler eher spielerisch und ironisierend ein: indem er sie als witzige Pointe plaziert, kann er gerade seine Souveränität über die vermeintliche Expertenherrschaft und die Doppeldeutigkeit des ärztlichen Handelns demonstrieren und zieht die Zuhörerin als Lacherin auf seiner Seite. Beides läßt sich nur jeweils über den kontextuellen (den Kontext betreffend, d. Red.) Zusammenhang des Gebrauchs herausarbeiten und verweist auf ganz verschiedene Bewältigungstechniken, bekommt also, obwohl der metaphorische (bildliche, d. Red.) Gehalt derselbe ist, durch die unterschiedliche funktionale Einbettung einen anderen Verwendungssinn.

Mein zweites Beispiel stammt aus dem Nachfrageteil eines narrativen (erzählenden, d. Red.) Interviews, d.h. nach der Spontanerzählung des Informanten greife ich als Interviewerin einen mir bislang fehlenden Aspekt auf und frage:

»Wie ist denn ihre Kindheit verlaufen?« und der Erzähler antwortet: »Was heißt hier Kindheit? Ich bin auf dem Land großgeworden«.

Worauf verweist diese kleine Sequenz? Hätte der Erzähler nur vermitteln wollen, daß seine Kindheit wenig erfreulich gewesen sei, hätte er dies auch in eine entsprechende Aussage kleiden können. Er reagiert aber auf meine ganz harmlose Frage nach einer üblichen biographischen Phase, der Kindheit, mit einer rhetorischen Gegenfrage, die die meine als unangemessen zurückweist. Den Grund für die Zurückweisung liefert er mit einer Information: er ist auf dem Lande großgeworden. Dies impliziert, daß es für einen Menschen, der auf dem Land großwird, so etwas wie »Kindheit« , wie ich mir das vorstelle, gar nicht gibt. Indem er eine solche Art von Kindheit für sich selbst in einer dramatisierenden, pointierten sprachlichen Form zurückweist, kann er mich gewissermaßen als ahnungslos und naiv hinstellen, einem Weltbild verhaftet, das mit seinen realen Lebensbedingungen nichts zu tun hat - ohne dies natürlich explizit zu sagen. Damit stellt er seine Identität in einem Akt der Distanzierung von meinen Vorstellungen über biographische Zusammenhänge her. Diese kleine Sequenz steht in einem größeren Verweisungszusammenhang: seine autobiographische Erzählung ist geprägt von latenten Vorwürfen und dem Gefühl, zum Opfer geworden zu sein.

Mein drittes Beispiel manifestiert sich erst in der Struktur größerer Textzusammenhänge in den Erzählungen der Ehefrauen. In Passagen, in denen sie über ihre Männer und die Probleme mit den Hirnverletzungsfolgen sprechen, taucht in vielen Interviews eine charakteristische Darstellungstechnik auf. Auf die Schilderung eines für die Familie sehr belastenden Symptoms des Ehemanns, etwa der Reizbarkeit, der Affektlabilität (Anfälligkeit für Stimmungswechsel, d. Red.) oder der Vergeßlichkeit, folgt sofort eine Art Gegensequenz, die man als Problemneutralisierung oder Unschädlichmachung bezeichnen könnte. So wird zum Beispiel auf besonders positive Eigenschaften des Mannes verwiesen, oder das Symptom wird in seiner Bedeutung wieder heruntergespielt, durch den Verweis auf eigene Defizite relativiert oder als allgemeinmenschliche Schwäche neu gerahmt. Typisch hierfür ist folgende kleine Sequenz: »Also mein Mann geistig ist er voll da, ja? Nur ich merke halt immer wieder, er vergißt viel. - Aber das machen wir ja alle, nicht? Ja, wenn man dann 70 ist, dann vergißt man schon dies und jenes.« Mit dieser Technik erreichen die Erzählerinnen, daß sie die faktischen Schwierigkeiten benennen können, ohne die Solidarität mit dem Ehemann aufzukündigen. Hier offenbart sich ein übergeordnetes Darstellungsziel der Ehefrauen: die Balancierung zwischen distanzierter Problemanalyse und identifikatorischer (Übernahme der Eigenschaften eines anderen, d. Red.) Loyalität zum Partner.

Worum ging es mir mit meinen Beispielen? Ich wollte aufzeigen, wie die Implikationen des jeweils Gesagten weit über den faktischen Gehalt der Aussagen hinausgehen, wenn man sie anhand ihrer rhetorischen Organisation als interaktive Praktiken auffaßt, mit denen Wirklichkeit und Identität auf der sprachlichen Ebene hergestellt werden. Damit verlieren diese diskursiven (erörternden, d. Red.) Techniken aber auch die Begrenzung des nur individuell Gültigen, sozusagen den haut gout (Anrüchigkeit, d. Red.) des Idiographischen (Einmaligen, d. Red.), und zeigen sich als soziale Herstellungspraktiken, als Regeln der Konstruktion und Aushandlung von Wirklichkeit, die sich in überindividuellen Mustern und Verfahrensweisen kondensieren lassen. Durch diese Betrachtungsweise des Erzählens läßt sich der Anschluß an die Paradigmen (Denkmuster, d. Red.) der »discursive psychology« gewinnen. (...)

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