Stiftung LEBENSNERV,
FORUM PSYCHOSOMATIK 2/98

Teil 2: »Alles gleich gültig und nichts gleichgültig« Erzählen von Krankheit und Behinderung - von Gabriele Lucius-Hoene

In der Psychologie als akademischer Wissenschaft erscheint es allenfalls unter den Datenerhebungsmethoden als ein wenig vertrauenswürdiges Verfahren: als »self-report« des Untersuchungsobjekts zu den Ereignissen und Erfahrungen seines Lebens; dem Selbstbericht, der aufgrund der bekannten und beklagenswerten Verzerrungstendenzen und Mängel des autobiographischen Gedächtnisses kein reliables und valides (verläßliches und gültiges, d. Red.) Abbild eines faktischen Geschehens, ja noch nicht einmal der wirklichen Motive und Einstellungen des Erzählers liefern kann und auf den man tunlichst zugunsten standardisierter Erhebungsinstrumente verzichten sollte. Als sprachliches Abbild der Wirklichkeit kann das Erzählen keinem der üblichen methodischen Gütekriterien genügen.

Lassen wir uns jedoch auf die alltagspraktische Bedeutung des Erzählens ein, dann eröffnen sich auch für unsere psychologischen Fragestellungen ganz neue Erkenntnismöglichkeiten. Sie liegen jenseits der Frage nach Validität und Wahrheitshaltigkeit des Erzählten und richten statt dessen den Blick auf Prozesse der Erfahrungsbildung und Identitätsstiftung (Engelhardt 1990). Ein Perspektivenwechsel vom Menschen als auskunftgebendem zum Menschen als erzählendem Wesen bedeutet, seine Erfahrungen und subjektiven Sinnwelten nicht als Gegebenheiten in seinem Inneren, sozusagen als Inhalte der »black box«, aufzufassen, die man in vorgegebenen Inventaren als zutreffend oder nicht zutreffend identifizieren oder inhaltsanalytisch als Bedeutungsbrocken aus seinen Äußerungen herauslösen kann. Es geht dann vielmehr darum, nachvollziehen zu können, wie sich diese Erfahrungen und Sinnbezüge in der sozialen Interaktion und im Medium der Sprache herausbilden, mit anderen Worten: wie ein Mensch seine persönliche Wirklichkeit nicht wiedergibt, sondern in einem kreativen Prozeß herausbildet und gestaltet (Bruner 1986, 1987, 1990, Linde 1993).

Wie kann man sich nun vorstellen, wie das Erzählen diese Leistungen hervorbringen kann? Ich möchte hierzu drei Aspekte herausgreifen: seine zeitliche Strukturierung, seine sinnstiftende Wirkung und seine Sozialität.

Folgt man phänomenologisch orientierten Erzähltheoretikern wie Ricoeur (1988, 1991) oder Carr (1986) , so gliedert sich bereits unser Erlebensstrom mit bedeutungshaltigen Strukturierungselementen wie Anfang-Mitte-Ende, Spannung-Lösung, Dieses-folgt-auf-jenes etc. in zeitliche Gestalten, die einen geschichtenförmigen Zusammenhang herstellen. Mit der zeitlichen Strukturierung ist Sinnstiftung verknüpft: in der Erzählung wird aus dem Beliebigen, Zufälligen, Heterogenen eines Geschehens eine bedeutungshaltige, verstehbare und vermittelbare Ordnung hergestellt, deren Elemente aufeinander bezogen und auf einen Sinneffekt hin organisiert sind (Gergen & Gergen 1986, 1987, 1988). So wird die Erzählform mit ihrer Eigenstruktur von Zeitlichkeit und Sinnhaftigkeit zu einem wichtigen Instrument, das »Erfahrung« überhaupt erst aus der Fülle des Erlebten auszugrenzen und zu verdichten erlaubt (vgl.a. Straub 1993).

Zum dritten ist Erzählen aber vor allem ein sprachlich-kommunikatives Geschehen, das auf einen realen oder imaginierten (vorgestellten, d. Red.) Zuhörer hin orientiert ist. Die Überführung in Sprache verlangt Konkretisierung und Festlegung: was in der Erinnerung noch vage bleiben kann, muß im Erzählen in sprachliche Muster überführt werden, die vom Zuhörer verstanden werden können; sein Vorwissen, seine Erwartungen und Reaktionen müssen berücksichtigt werden. Erzählen beschränkt sich aber nicht auf die Wiedergabe eines Geschehens, der Hörer bleibt nicht bloßer Empfänger einer Mitteilung. Der Sprechakttheorie verdanken wir die Einsicht in den (...) Doppelcharakter des Sprechens, d.h. der Tatsache, daß mit dem Sprechen immer auch eine Handlung verbunden ist.

Als ein Charakteristikum dieser Handlungsseite des Erzählens wird in der Geschichte ein Vorstellungsraum aufgebaut, in dem das Vergangene in die Gegenwart geholt, das Erlebte nochmals reinszeniert (wiederholt, d.Red.) wird, die damaligen Handlungen und Ereignisse quasi erneut ablaufen (Rehbein 1982). Der Hörer wird in diesen Erzählraum hineingezogen und zum Verbündeten der Erfahrungsbildung des Erzählers gemacht. Durch seine Signale der Aufmerksamkeit und emotionalen Beteiligung, seine Rückmeldungen, seine faktischen oder vermuteten Bewertungen, ja bereits durch seine bloße oder auch nur imaginierte Gegenwart wird er zum Mitstifter der Erzählung. Ihm gegenüber muß der Erzähler die Plausibilität seiner Geschichte, seine biographische Sinnherstellung, die Darstellung seiner eigenen Person als handelndem und erlebenden Mittelpunkt vertreten. Erzählen ist also mehr als nur Biographierekonstruktion und Identitätspräsentation: beide werden erst in der gemeinsamen kommunikativen Leistung entfaltet; Biographie wird konstruiert, Identität wird hergestellt. Im Akt des Erzählens entwickelt der Erzähler sowohl die individuelle Besonderheit seiner Person als auch die Einbindung in einen intersubjektiven (von verschiedenen Personen nachvollziehbaren, d.Red.) Erfahrungs- und Sinnzusammenhang.

Aber auch wenn der Erzähler sich in die damalige Erfahrung rückversetzt, bleibt ihre Darstellung doch an ihre spezifische Entstehungssituation, an den sozialen und den Verwendungskontext ihrer Realisierung gebunden. Sinnvermittlung und Bewertung entstehen im Hier und Jetzt (Rosenthal 1995).

Aus den Notwendigkeiten der kommunikativen Verständigungsarbeit und der Entfaltung von Erinnerungen entwickelt der Erzählprozeß eine Eigendynamik, die als schöpferisch begriffen werden kann

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