FORUM PSYCHOSOMATIK

Zeitschrift für Psychosomatische MS-Forschung, 24. Jahrgang, 1. Halbjahr 2014

Mein Coming out als... Behinderte

Von Victoria A. Brownworth

Jahrelang hat man mir gesagt, dass ich nicht wie eine Lesbe aussehe. Dies ist ein häufig verwendeter Kommentar, um die sexuelle Orientierung von weiblich anmutenden Lesben zu entwerten. Dies beinhaltet auch, dass wir einfach noch nicht den richtigen Mann getroffen hätten. Ich habe dann immer, oft etwas schnippisch, geantwortet, dass ich eine Lesbe sei, also müsse ich auch so aussehen.

Doch während ich nie versucht habe, heterosexuell zu wirken, versuche ich, als nicht behindert zu gelten. Wenn mir Leute sagen, dass ich nicht behindert aussehe, bin ich froh. Ich empfinde es als Kompliment. Während ich recht leicht die negativen Assoziationen zu meinem Queer-Sein zurückgewiesen habe, habe ich Schwierigkeiten mit meinem „Behindert-Sein“. Warum ist das so?

Nach Angaben der US-amerikanischen „Centers for Disease Control and Prevention“ gibt es rund 60 Millionen AmerikanerInnen, man könnte auch sagen, einer von fünf, mit mindestens einer Beeinträchtigung. Die meisten AmerikanerInnen erfahren eine Behinderung irgendwann im Laufe ihres Lebens. Einer von fünf! Die größte Minderheit in Amerika.

Nun, warum bin ich dann so bemüht, meine Behinderung so gut wie möglich zu verstecken, wenn es so viele Menschen mit Behinderung gibt? Die Hauptgründe dafür sind denen ähnlich, weshalb man sein Queersein nicht outen will: um den Arbeitsplatz zu erhalten; die Furcht davor, wie sich die Leute verhalten, wenn sie Bescheid wissen; die Furcht, Freunde zu verlieren; die Furcht vor Isolation; die Furcht als defekt zu gelten; die Furcht davor, bemitleidet zu werden.

Doch einer von fünf ist eine beeindruckende Zahl. Millionen von AmerikanerInnen versuchen jeden Tag zu bewältigen, ohne dass jemand merkt, dass mit ihnen etwas Ernstes nicht stimmt, ohne dass jemand entdeckt, dass sie nicht normal sind, ohne dass jemand sie als irgendwie defekt, weniger wert, zerbrochen oder krank betrachtet. Ich wurde nicht behindert geboren. Ich lebte mein nicht behindertes Leben bis Mitte zwanzig. Aber dann begann es schief zu laufen. Ich machte lange Perioden dessen durch, was die SchriftstellerInnen des 19. Jahrhundertes wohl als „Unwohlsein“ bezeichnet hätten. Ich war nicht wirklich krank, aber auch nicht wirklich gesund. Ich war immer erschöpft. Mir war, unabhängig von der Jahreszeit heiß und in Sommern konnte ich die Hitze kaum ertragen. Meine Füße fühlten sich an, als steckten glühende Nadeln darin. Manchmal waren meine Hände taub. Nach einem langen Arbeitstag vibrierten Blitzlichter an meinen Augenrändern. Oft war mir schwindling. Erst als ich 30 wurde, verschlimmerten sich das Unwohlsein und die anderen Symptome, die ich nicht miteinander in Verbindung brachte, dramatisch.

Die ganze Zeit arbeitete ich als investigative Reporterin und reiste viel. Eine Monatsreise an die Westküste der USA, auf der ich an einem Buch arbeitete, endete damit, dass ich – mein rechtes Bein halb nachziehend – in den Osten zurückkehrte. Ich konnte mich nicht daran erinnern, mir den Knöchel verstaucht zu haben (ich trug recht hohe Stöckelschuhe zu jener Zeit) oder irgendetwas getan zu haben, dass es mir erschwerte, meinen rechten Fuß anzuheben und dann ganz wieder normal aufzutreten. Ich nahm mir vor, nach meiner Rückkehr einen Arzt aufzusuchen, doch dann wurde es wieder o. k. und ich verzichtete auf den Arztbesuch. Ich führte die Symptome darauf zurück, dass ich überarbeitet war und von einem Ende Kaliforniens zum anderen gereist war, währenddessen ich ständig Interviews führte, in Hotels schlief und ein Erdbeben miterlebte.

Jahrelang ging ich überall zu Fuß hin oder fuhr Fahrrad und besaß bis 32 kein eigenes Auto und wenn man eine 60-Stunden-Woche hat und oft körperlich aktiv ist, dann kann man Erschöpfung auch als normal erleben. Ich bekam auch niemals genug Schlaf. Ichliebte es, tanzen zu gehen und meine Nächte in Clubs zu verbringen, statt mir die nötige Ruhe zu gönnen– wenn ich älter wäre, so dachte ich, könne ich immer noch genug ausruhen. Ich bin mir nicht sicher, wann genau die Symptome so stark wurden, dass ich sie nicht mehr ignorieren konnte, aber mit Mitte 30 erlebte ich einen Sommer, in dem ich einfach nicht aus dem Bett kam. Ich hatte mich selber in eine wirkliche Erschöpfung hineingearbeitet, sagte ich mir. Aber ich wusste, dass es mehr als das war – und ich hatte Recht.

Im nächsten Jahr fiel ich öfter hin. Ich war so häufig bei meiner örtlichen Krankenstation, dass die Krankenschwestern wohl dachten, ich sei eine misshandelte Frau. Ich brach mir 13 Knochen in 18 Monaten und hatte immer einen Gipsverband – dann wurde ich blind. Mein Leben hatte sich darum gedreht, dass ich sehen konnte. Ich war eine Schriftstellerin und gierige Leserin. Ich schrieb eine Menge Besprechungen und Kritiken. Ich gab Schreibunterricht. Wie würde ich, wie könnte ich jemals leben, ohne sehen zu können?

Es war der Augenarzt, der herausfand, was nicht stimmte. Ich hatte eine Sehnervenentzündung, ein Symptom, das mit einer Erkrankung einherging, über die ich fast nichts wusste: Multiple Sklerose oder MS. Glücklicherweise ist die Sehnervenentzündung eine vorübergehende Erscheinung, auch wenn es Monate dauern kann, bis sie sich zurückbildet, und auch wenn sie eine dauerhafte Erblindung zur Folge haben kann. Die Sehnervenentzündung ist eine der Symptome, die MS signalisieren. MS ist eine Autoimmunerkrankung und alles, was ich darüber wusste, war, dass es von ihr hieß, sie sei der „Verkrüppler von jungen Er-wachsenen“. Falls es dies war, was mit mir nicht stimmte, dann war ich nun ein Krüpppel.

Ich wehrte mich mehr als ein Jahr lang gegen meine Diagnose. Ich lief mit Unterarmstützen, und wenn mich jemand danach fragte, murmelte ich etwas von einem Unfall. Aber dann hatte ich eine deutliche Verschlimmerung, die drei Jahre dauerte und mein Leben völlig aus dem Gleis warf. Meine Beine funktionierten nicht, ich konnte mich kaum bewegen. PhysiotherapeutInnen und Pflegekräfte kamen zu mir in die Wohnung, die ich in diesen drei Jahren nur ungefähr ein Dutzend Mal verließ, nur um ins Krankenhaus zu gehen. Ich schrieb vom Bett aus. Ich lebte in nur einem Raum meines zweistöckigen Hauses. Ich benötigte einen Rollstuhl, um mich in meiner Wohnung zu bewegen, sogar vom Schafzimmer ins Badezimmer. Meine damalige Partnerin und ich trennten uns unter dieser Belastung. Ich dachte an Selbstmord. Ich war in der Tat selbstmordgefährdet. Mein Leben hatte sich für immer verändert. Jetzt war ich behindert. Jetzt war ich Krüppel. Die Zeit der hohen Absätze war vorbei, ebenso das Fahrradfahren, Wandern und Tanzen. Aber glücklicherweise war die Zeit meines Schreiben nicht vorbei. Wenn mein Körper und ich nicht mehr verlässlich genug für ein investigatives Reporterinnenleben funktionierten, dann könnte ich ja immer noch Features, Kommentare und Bücher schreiben. Aber ich wollte nicht behindert sein. Diese Etikettierung wies ich zurück.

Jetzt lebe ich seit 15 Jahren mit und ohne Rollstuhl. Im Haus habe ich einen Elektrorollstuhl und im Kofferraum meines Autos liegt ein Faltrollstuhl. Ein Treppenlift bringt mich vom ersten in den zweiten Stock meines Hauses. Ich laufe mit einem Stock, wenn ich draußen bin, ich kann aber nicht weit laufen. - Ich schreibe immer noch vom Bett aus. An den meisten Tagen ist es schwer aufzustehen, da mein Gehirn sich weigert, mit meinen Armen und Beinen zu sprechen. Die MS hat meine Sicht eingeschränkt und verursacht fast ständigen Schwindel. Ich erwache jeden Tag mit komplett tauben Händen und Füßen und mit Spastiken. Die Sommer sind unerträglich, da mein Körper seine Temperatur nicht mehr regulieren kann. Zwischen Mai und Oktober verlasse ich deshalb kaum mein Haus.

Die Behinderung hat mein Leben, wie es einmal war, radikal verengt. Wenn ich träume, dann tue ich immer die Dinge, die ich gerne tat und nun nicht mehr kann: am Strand entlang laufen, Felsen hochklettern, Fahradfahren, tanzen. Wenn ich ein neues Semester meiner Lehrtätigkeit beginne, komme ich mit dem Rollstuhl, da ich ohne Unterstützung meiner Beine nur kurze Zeit sitzen kann. Ich mache Witze mit meinen Studierenden, dass meine Beine in der zweiten Stunde zu wackeln beginnen – sie bräuchten aber nicht den Notruf zu wählen, solange ich nicht auf den Boden rutsche.

Täglich kämpfe ich mit den Widrigkeiten der Behinderung: Ich stürze häufig, ich lasse Dinge fallen und ich denke, dass ich mehr kann als mein Körper mir erlaubt. Ich sehne mich nach meinem alten Körper, der tun konnte, was immer ich von ihm wollte. Ich beobachte nicht behinderte Menschen, die sich auf Behindertenparkplätze stellen und mir sagen, dass es „nur eine Minute dauert“, als ob jemand mit einer Behinderung nicht Besseres zu tun hätte, als auf Nichtbehinderte zu warten, die gerade ihre Besorgungen machen. Ich höre Leuten zu, die sich über behinderte Menschen beklagen, die die Regierung mit falschen Angaben betrügen.

Und ich verstecke mich. Ich stecke so tief wie möglich im Gefängnis meiner Behinderung. Ich spreche mit RedakteurInnen, während ich im Bett liege und versuche, alle Diskussionen im Gedächtnis zu behalten, da meine Handschrift in den letzten Jahren komplett unleserlich geworden ist, da meine Hand zittert oder krampft. Ich halte Webinare ab, da sie es nicht erfordern, dass ich außer Haus gehe. Ich schreibe nur wenige investigative Stücke im Jahr, da mein Körper mir nicht mehr erlaubt.

Ableismus* ist, wie Homophobie, eine reale Angelegenheit, die sich durch unsere gesamte Gesellschaft zieht. Der „Americans with Disabilities Act“ (das US-amerikanische Gleichstellungsgesetz, HGH) ist eine unzuverlässige Farce und diejenigen von uns, die behindert sind, einer von fünf, müssen gegen ArbeitgeberInnen und GrundstückeigentümerInnen kämpfen, gegen ÄrztInnen und gegen die Krankenversicherungen, um das zu bekommen, was sie brauchen. Wir müssen AktivistInnen sein, egal ob wir es wollen oder nicht und doch müssen wir die ganze Zeit unser Bestes tun, um uns vor denen, von denen unser Überleben abhängt, zu verstecken, damit sie nicht sehen, wer wir wirklich sind.

Aber wenn einer von fünf mit einer Behinderung lebt, so bedeutet das, dass jeder Menschen mit Behinderung kennt. In jeder Familie lebt einer von uns, an jedem Ar-beitsplatz, in jeder Schule, in jeder Clique. Wir sind überall. Doch wird Behinderung in diesen Gemeinschaften auch thematisiert oder werden wir im Jahr 2013 genauso beiseitegeschoben, wie es Jahrhunderte vorher der Fall war? Ausgeschlossen aus Institutionen durch neue Gesetze und nicht durch Einstellungen?

Einer von fünf LGBT-Menschen (Lesbian-Gay-Bi-Trans, HGH) lebt mit Behinderung. Denken wir anders darüber in unseren Communities, als nur das Wort „Ableismus“ als Lippenbekenntnis auszusprechen? Auf Twitter habe ich eine Freundin – eine Transfrau mit einer spastischen Lähmung – aus deren Konversationen ich nie geschlossen hätte, dass sie mit Behinderung lebt. Doch ich weiß es aus eigenem Erleben – wenn sie sich mit ihrem Rollstuhl in der Öffentlichkeit bewegt, wird sie so behandelt, als ob sie Luft wäre. Ihr intelligentes, witziges, artikuliertes Selbst wird ausgelöscht durch die Leute, die nur ihre Behinderung sehen. Die Leute reden mit der Person, die deinen Rollstuhl schiebt, als ob du selber stumm seist.

Ich bin nicht stumm geworden. Ableismus ist der letzte und vielleicht furchtbarste -ismus, den wir in unserer Gesellschaft thematisieren müssen. Unsere Angst vor dem Kranken und Behinderten ist eine Kultur, die sich seit dem Mittelalter nicht viel weiterentwickelt hat. Wir packen die Behinderten nicht länger in Lagerhallen, aber wir würden es gerne. Wir würden unterschiedliche Körperlichkeiten gerne aus unserem Blickfeld verbannen, da sich Behinderung für uns fremd anfühlt, und erschreckend – vielleicht weil wir wissen, dass wir die nächsten sein könnten.

Dies hier ist also mein Coming out als Krüppel. Ich hätte nie gedacht, dass ich behindert sein könnte – bis ich es selber war. Die Themen, die sich rund um Behinderung bewegen, sind enorm und gehen uns alle an und deshalb kann es sich niemand leisten, sie zu ignorieren.

Victoria A. Brownworth ist eine preisgekrönte Journalistin, Herausgeberin und Schriftstellerin, die unter anderem auch für den Pulitzer Preis nominiert war. Ihre Werke werden unter anderem in der New York Times, der Baltimore Sun, dem Philadelphia Inquirer und in The Nation veröffentlicht. Ihr Buch „Restricted Access: Lesbians on Disability“ ist im Buchhandel erhältlich.

*: vgl. zum Begriff des „Ableismus“ den nachfolgenden Artikel von Wiebke Schär.

http://www.amazon.com/Restricted-Access-Disability-Victoria-Brownworth/dp/158005028X

Auf Twitter ist sie zu erreichen unter @VABVOX.

Quelle: http://vowser.advocate.com/commentary/coming-out/2013/10/11/coming-out-asdisabled (vom 11. Oktober 2013) Übersetzung ins Deutsche: H.- Günter Heiden





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