FORUM PSYCHOSOMATIK

Zeitschrift für Psychosomatische MS-Forschung, 24. Jahrgang, 1. Halbjahr 2014

Von Ableismus, seinen Facetten und Auswirkungen

von Wiebke Schär

Der in Deutschland bislang noch zurückhaltend verwendete, aber dennoch brisante Begriff Ableismus (sprich Ey-be-lis-mus) leitet sich aus dem englischen Verb „to be able“ab und wird mit „fähig sein“ ins Deutsche übersetzt. Die Nachsilbe „-ismus“ markiert die Bildung eines Substantives und bedeutet damit ein in sich geschlossenes Gedankensystem. Ein deutschsprachiges Äquivalent, beziehungsweisese eine dementsprechende Übersetzung wird jedoch zurzeit leider (noch) nicht verwendet. Der Ableismus bezeichnet analog zu den Konzepten Sexismus gegenüber Frauen, Rassismus gegenüber Menschen mit anderer Hautfarbe oder Antisemitismus gegenüber Juden und Judentum den Vorgang der Ausgrenzung und Diskriminierung von Menschen mit Beeinträchtigungen, die auf ihre Behinderung reduziert werden indem sie als „weniger fähig“ angesehen werden. Der in diesem Zusammenhang in Deutschland weit verbreitete und fälschlicherweise synonym verwendete Begriff „Behindertenfeindlichkeit“ greift jedoch zu kurz als Definition. Denn: Ableismus geht über die Behindertenfeindlichkeit hinaus und ist mehr als eine reine Form der Diskriminierung, die nicht in erster Linie „feindlich“ oder aggressiv ist, und schließt ein Denken mit ein, das Charakteristika und Fähigkeiten einer Person einseitig auf die Beeinträchtigung ihres Körpers oder/und ihres Geistes reduziert. Ableismus als Ausdruck von Ausgrenzung behinderter Menschen hat sich mit seinen vielseitigen Gesichtern in unserer Gesellschaft manifestiert.

Definitionsversuche

An dieser Stelle seien noch einige Definitionsversuche aufgeführt, die Ableismus und seine Facetten treffend auf den Punkt bringen.

Die Hamburger Soziologieprofessorin Prof. Dr. Marianne Pieper definiert Ableismus als „eine, wie selbstverständlich vorhandene, wirkmächtige Struktur von Überzeugungen, Bildern, Praktiken, baulichen Strukturen, Werkzeugen und Institutionen, die bestimmte Fähigkeiten (maximal leistungsfähig zu sein) als fragelose Norm unterstellt. Menschen, die vermeintlich oder tatsächlich nicht dieser Norm entsprechen, werden als ‚Abweichung‘ oder unter dem Aspekt des Mangels betrachtet, statt sie als Ausdruck menschlicher Vielfalt zu sehen“.

Die US-amerikanische Autorin und Expertin für Disability Studies Simi Linton definiert Ableismus wie folgt: „Ableismus ... beinhaltet die Idee, dass die Fähigkeiten oder Charakteristiken einer Person determiniert sind von einer Behinderung oder, dass Menschen mit Behinderungen als Gruppe nichtbehinderten Menschen unterlegen sind“.

Folgend werden Beispiele von Facetten und Wirkungsweisen von Ableismus skizziert.

Ableismus bewertet

Ein Beispiel, das die Wirkungsweise verdeutlicht, ist die Beurteilung eines Menschen aufgrund seines Körpers im Zusammenspiel mit dem medizinischen Verständnis von Behinderung: So werden Menschen anhand ihrer Hautfarbe, ihres Geschlechts oder aber im Falles Ableismus anhand ihrer Beeinträchtigung und damit verbundenen körperlichen Abweichung von einer „Norm“ auf eben jenes Merkmal reduziert, an das Wertungen und Stereotype geknüpft ist: In unserer heutigen Gesellschaft zum Beispiel sind Pauschalisierungenüber blinde Menschen gängig, die behaupten, dass sie von Natur ausbein sehr gutes Gehör haben. Oder über Menschen mit Down-Syndrom wird behauptet, sie seien immer besonders fröhlicher Natur und autistische Menschen hochbegabt. Wie diese Beispiele zeigen, kann Ableismus als eine Aufwertung (der Übererfüllung einer Norm) ausgedrückt werden, wobei besonders für die von außen negativ bewerteten Menschen weitreichende Folgen spürbar werden. „Denn als behindert einsortiert worden zu sein, hat in Deutschland in aller Regel einen Ausschluss aus der Mehrheitsgesellschaft zur Folge“, so die Jour-nalistin Rebecca Maskos.

Zufällige Fehler und Ausrutscher, wie sie jedem Menschen passieren, können aber durchaus als Abwertung gedeutet werden, wenn sie zum Beispiel einem Menschen mit Beeinträchtigungen geschehen. „Aus der Nervenheilanstalt Entlassene fürchten sich zum Beispiel manchmal davor, sich mit Ehegatten oder Arbeitgebern in scharfe Auseinandersetzungen zu verwickeln, wegen ihres latenten Stigmas, für das es als Indiz gewertet werden könnte, wenn sie Emotionen zeigen“, schreibt der Soziologe Erving Goffmann.

Keine Arbeitsleistung? Abgewertet!

Behinderte Menschen sind deshalb oft unsichtbar, weil die Ausgrenzung und Aussonderung funktioniert: Das Leben in Sonderinstitutionen abseits der Mitte der Gesellschaft oder/und auch bauliche Barrieren hindern Menschen mit Beeinträchtigungen daran, in der Gesellschaft mitzumischen. Ausgegrenzt und abgewertet wird meist anhand einer Beurteilung der „Fähigkeit“, wie auch deutlich wird, wenn wir den Wert der Arbeit näher betrachten: Der Mensch als „Ware Arbeitskraft“ wird allein an seiner Erwerbsfähigkeit und Produktivität gemessen. Wer als behinderter Mensch nicht der „Norm“ der Mehrheit entsprechend „leisten“ kann, wird in Sondereinrichtungen wie den Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM) „beschäftigt“. Durchgesetzt hat sich auch das Denken, wer nichts leiste, der/die solle auch nichts vom Staat bekommen. Hier passt es, sich das Bild aus dem Jahre 1939 zur Propaganda der Euthanasie in Erinnerung zu rufen: Ein großer Mann trägt angestrengt auf jeder seiner Schultern einen Mann, darüber die Bildüberschrift „Hier trägst du mit“ mit dem Untertitel „Ein Erbkranker kostet bis zur Erreichung des 60. Lebensjahres durchschnittlich 50.000 Reichsmark“.

Heute ist es so, dass Menschen mit Lernschwierigkeiten (einst so genannten „geistigen Behinderungen“) durch die Gesellschaft mehr Diskriminierung erfahren als körperbehinderte Menschen. Dies hängt damit zusammen, dass in unserer Wissensgesellschaft mittlerweile – anders als es das oben skizzierte Bild zur Propaganda aus dem Jahre 1939 nahelegte – der Intellekt höher angesehen wird als die körperliche Leistungsfähigkeit. Unabhängig davon, ob nun Intellekt oder körperliche Leistung – die Fähigkeit, Arbeitsleistung zu bringen war, ist und bleibt dabei ganz zentral: Beispielsweise war es im Nationalsozialismus so, dass allein diejenigen, deren Arbeitskraft unersetzlich war, ausgenommen waren von der Aussonderung, die in der „Euthanasie“ „Minderwertiger“ mündete. Das Leistungsprinzip wird als Garant sozialer Gerechtigkeit verstanden – Anstrengungen werden belohnt und Leistung als normative Richtschnur regelt die Verteilung des Reichtums. Die Menschen definieren ihr Dasein über ihre Tätigkeiten, allen ist es wie selbstverständlich klar: das Leben in der Gesellschaft muss erarbeitet werden, denn der Nutzen und Wert des Menschen ergibt sich aus eben dieser individuellen Leistungs- und Arbeitsfähigkeit. Das bedeutet aber im Umkehrschluss, dass jemand, der/die keiner Tätigkeit nachgeht, weniger wert ist, weil die Person dem Staat durch ihr „nichts nutzen“ Kosten verursacht, weil eben keine eigenen Arbeitsergebnisse beigetragen werden.

Denken wir diese These weiter, kommt man darauf, dass sie eigentlich nur dann angewendet werden könnte, wenn wir in einer homogenen Gesellschaft leben würden. Dies ist jedoch nicht der Fall und so wird der Gesellschaft jedwede Form der Vielfalt abgesprochen und marginalisierten Gruppen der Gesellschaft Homogenität aufgezwungen, indem den Minderheiten nur Assimilation bleibt und ihre eigenen Interessen und Bedarfe in der Folge auf der Strecke bleiben.

Heute geschieht die Ausgrenzung auf verschiedenen Ebenen

Die Autorin Birgit Rommelspacher differenziert die Mechanismen der Ausgrenzung auf unterschiedlichen Ebenen. Auf der gesellschaftlichen Ebene sind es die Vorurteile, die Normorientierung, aber zum Beispiel auch Einweisungen in Sondereinrichtungen, die Ausgrenzung deutlich machen. Auf struktureller Ebene zeigt sich Ausgrenzung in den Strukturen in Institutionen, in strukturellen Barrieren wie beispielsweise Mobilitätshindernissen oder aber in den errichteten Son-derwelten: Sie sollen nichtbehinderte Menschen und behinderte Menschen gleichermaßen beschützen, wie die steigende Anzahl von Werkstätten für behinderte Menschen oder Wohnheimen deutlich macht in Anbetracht der nur sehr schleppend und vereinzelt umgesetzten Inklusion der schulischen und beruflichen Bildung. Auf der persönlichen Ebene der Ausgrenzung beschreibt Rommelspacher all das Zwischenmenschliche, das sich im direkten Kontakt mit anderen Menschen äußert, wie zum Beispiel die typische Kontaktmeidung behinderten Menschen gegenüber.

Das Konzept der Abwertung beziehungsweise Aufwertung und die damit verbundene Aus- und Abgrenzung haben eine lange Tradition in Deutschland. Den extremsten Ausdruck fanden diese Konzepte in den Verbrechen des Nationalsozialismus. Dies ist auch ein Grund dafür, dass Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern bei der Umsetzung von Inklusion soweit zurückliegt – so wurde doch mit gutgemeinten Maßnahmen der beschützenden Sondereinrichtungen versucht, die extreme Abwertung behinderter Menschen wieder gutzumachen und ihnen auf ihre „Besonderheit“ angepasste Nischen zu schaffen.

Im Gegensatz zu anderen diskriminierten Gruppen, wie Frauen oder ArbeiterInnen, verfügten behinderte Menschen nicht über die gesellschaftliche Macht, um für ihre Rechte zu kämpfen, weshalb sie im besonderen Maße diskriminiert wurden. Gründe hierfür waren unter anderem ihre Geringschätzung und die Schwierigkeit, untereinander eine gemeinsame behindertenpolitische Bewegung zu bilden. Besonders dieser Hintergrund macht deutlich, welche bemerkenswerten Veränderungen die Selbstbestimmt-Leben-Bewegung in Deutschland erzielt hat.

Ableismus in der Sprache

Auch der Sprachgebrauch verdeutlicht die Wirkung von Ableismus: Die Machtkonstruktion zwischen nichtbehinderten und behinderten Menschen macht sich beispielsweise dort bemerkbar, wo die persönliche Privatsphäre aberkannt wird. Dies äußert sich in ganz klassischen Beispielen: Behinderte Personen werden oft automatisch und ohne Nachfrage geduzt, ihnen werden direkt persönliche Fragen gestellt, oder aber nicht die behinderte Person selbst, sondern ihre Assistenz oder Begleitung wird angesprochen oder gefragt.

Behinderte Menschen in den Medien – damals und heute

Wirft man einen Blick auf die Medien zu Beginn ihrer Zeit bis heute, lässt sich auch deutlich erkennen, wie behinderte Menschen wahrgenommen werden, und wie die Gesellschaft mit ihnen umgeht. Was alle denkbaren Formen von Medien miteinander vereint, ist ihr Ziel, eine größtmögliche Aufmerksamkeit zu erreichen.

Neben der Tatsache, dass die Medien in Form von ihren Erlebnisberichten, Nachrichten und Kommentaren „gute Dienste“ für ihr Publikum vollbringen, geht es ihnen auch vor allem darum, als Medienereignis an sich von Bedeutung zu sein. Auch in der Darstellung behinderter Menschen kann der Medienlandschaft eine bestimmte Macht zugesprochen werden: Oft werden behinderte Menschen entweder als „von der Norm abweichend“ auf negative Art und Weise dargestellt, oder aber positiv hervorgehoben, im Sinne der Angleichung an die Norm. Fest steht, dass behinderte Menschen durch die Medien oft auf ein Merkmal – und zwar ihre Beeinträchtigung – reduziert werden. Insbesondere, wenn es um Aufsehenerregendes, Bizarres, außerordentliche Leistungen oder Schicksalhaftes geht, wird über sie berichtet. Diese, – wenn auch sehr eindimensionale – Berichterstattung, drängt die im Zentrum stehende Person in eine bestimmte Rolle, spricht für diese Menschen stellvertretend.

Die öffentliche Meinung wird zunehmend durch die Propaganda der Medien geformt und beeinflusst ebenso den kulturellen und gesellschaftlichen Wandel. Handelt es sich bei der Entstehung des Zeitungswesens im 17. Jh. doch um ein „medienhistorisches Schlüsselereignis“. Trotz der sehr hohen Analphabetenquote zu jener Zeit, machen sich die Medien die Neugier und Schaulust der Menschen zu Nutze, indem sie auf die Bildlichkeit setzen.

Medien aber allein die Schuld an der kränkenden Darstellung behinderter Menschen zuzuweisen, wäre allerdings zu kurz gegriffen. Behindertenfeindlichkeit und Ableismus werden durch die Medien zwar nicht gemindert oder gar aufgehalten; allerdings werden diese in Medien dokumentiert. So war das Forschungsinteresse und die Gier nach Sensationen eng verbunden mit Kränkungen von behinderten oder kranken Menschen, die man als „Monster“, „Wunder“ oder „Kuriosität“ zur Schau stellte über Zeichnungen, Flugblätter, Kabinette oder Wanderzirkusse.

Welche zahlreichen Beispiele die Medien und ihre Sprache uns heute liefern, stellt das online-Portal leidmedien.de als Ratgeber für den respektvollen Sprachgebrauch treffend dar: In den Medien sind querschnittgelähmte Personen nicht selten „an den Rollstuhl gefesselt“ und ein blinder Mensch „leidet“ an seiner Behinderung, alle beide „meistern“ aber „trotz alledem“, was sie „nicht können“, ihr Leben mit Bravour. Ein verzerrtes Bild von behinderten Menschen mit ihren Beeinträchtigungen entsteht durch diese Sprache – sie zieht stetig eine klar definierte Grenze zwischen den „Normalen“ und denen, die davon abweichen und tragen dazu bei, dass LeserInnen noch verunsicherter, ängstlicher und ausweichender auf behinderte Menschen reagieren. Und – ganz wesentlich –, der behinderte Mensch bleibt durch die behindernde Sprache auf seine Defizite und die Beeinträchtigung, die ihn zum „Opfer des eigenen Schicksals“ machen, reduziert, da der ganzheitliche Blick auf die Person mit ihren vielfältigen Eigenschaften und Rollen, die sie in ihrem eigenen Leben ausfüllt, ausbleibt.

Wiebke Schär ist Bildungsreferentin bei der Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland – ISL e.V. und Autorin der Publikation „Wir sind bunt und frech, mutig und laut!“ (vgl. auch nachstehende Buchvorstellung) Der vorstehende Text ist ein Auszug aus der Publikation – Literatur bei der Autorin.





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