FORUM PSYCHOSOMATIK

Zeitschrift für Psychosomatische MS-Forschung, 24. Jahrgang, 1. Halbjahr 2014

Zu: „Thesen zum schlechten Ruf der MS“

In der Ausgabe 1-2012 von FORUM PSYCHOSOMATIK hat Sigrid Arnade Thesen über den schlechten Ruf der MS geschrieben und zur Diskussion darüber aufgerufen. In Heft 1-2013 folgten dann die ersten Beiträge und in dieser Ausgabe antwortet Claudia Hontschik aus Frankfurt auf diese Thesen.

Ja, die MS hat einen schlechten Ruf. Zu Recht! „Viele Menschen verbinden mit MS ganz unspezifisch etwas Unheimliches, Grauenhaftes.“ Diese Beobachtung in Deiner ersten These teile ich, „die Unabwägbarkeit hinsichtlich der Symptomatik und des weiteren Verlaufs“ ist dafür aber nicht allein verantwortlich. Ich glaube, dass der Ort der Erkrankung eine besondere Rolle spielt: das Gehirn, neben dem Herzen die zweite „Zentrale“. Das Gehirn (und das ZNS) gehört wie kein anderes Körperteil für jede Einzelne unverwechselbar zu ihr selbst. Die Krankheit ist eine Attacke auf die geistig seelische Integrität jeder Einzelnen.

Wenn ich zurück denke an die Anfangsjahre mit MS, so war die Krankheit mir selbst unheimlich. Kann ich mich noch auf meine Wahrnehmung verlassen? Kriege ich noch alles mit? Ticke ich noch richtig? Und wer sagt mir, wenn es nicht mehr so ist? Da habe ich trockene Blätter in der Hose, aber wenn ich hinfasse, ist da nichts. Die Wahrnehmung meldet Geschehnisse, die niemand außer mir fühlen kann. Wie irre ich mir da manchmal vorgekommen bin. In einem schweren Schub, als meine Füße und Unterschenkel in eisernen Stiefeln steckten, telefonierte ich mit einer Freundin und schilderte ihr, wie sich das anfühlt. Wir mussten darüber beide schrecklich lachen, weil es so irre war.

Den genannten Propagandafilm der Nazis kenne ich nicht, aber die Euthanasieprogramme der Nazis und ihre dazugehörige Ideologie des „unwerten Lebens“. Schon als Kind hat mir meine Mutter von den rauchenden Schornsteinen in Hadamar (eine psychiatrische Anstalt unweit von Frankfurt am Main) erzählt. Man habe gewusst, was dort geschehe. Als ich krank geworden war, habe ich mich sofort auf der Opferseite gefühlt und hatte regelrecht Angst davor, offiziellen Stellen (Versorgungsamt etc.) etwas über mich preiszugeben. Das habe ich zwar gleichzeitig als irrational empfunden, denn der Naziterror ist ja vorbei. Aber Ausgrenzung und Bedrohung liegen für mich immer noch in der Luft.

Ach, ich habe doch früher auch nichts gewusst über ein Leben mit und im Rollstuhl. Und ich verstehe daher all die für mich merkwürdigen Verhaltensweisen meiner Mitmenschen, die meist nichts Böses im Sinn haben, wenn sie noch rasch vor dem Rollstuhl vorbei springen, wenn sie mich anglotzen, wenn sie die Rollstuhlgriffe packen, um mich zu beschleunigen. Mir hat noch nie jemand gesagt, sie wäre lieber tot als im Rollstuhl. Das ist empörend und dumm. Solche Menschen wären für mich erledigt.

Ich würde aber auf keinen Fall sagen, im Rollstuhl führe Frau ein gutes Leben. Im Gegenteil. Dieses Leben ist schwer, es ist anstrengend und voller Ausgrenzung und Verzicht, es ist eingeschränkt und ein ständiger Kampf gegen Widrigkeiten aller Art. Es ist ein schmaler Grat zwischen Horrorszenarien, die Leuten Angst machen und Verharmlosung, die ein Schlag ins Gesicht ist für diejenigen, die es schwer getroffen hat.

Was macht die MS außerdem noch so besonders im Vergleich zu anderen Erkrankungen? Da ist noch die enorme Hilfslosigkeit der Ärztinnen bei Nervenerkrankungen. Dem riesigen Aufwand an Diagnosemitteln steht ein vergleichsweise armseliges Arsenal an Medikamenten gegenüber. Das merkt jede mit MS ziemlich schnell.

Zu jeder Zeit aber können durch eine neue Läsion im Nervenkabel neue Probleme auftauchen, die in der Folge die eigene Würde beschädigen können (in die Hose machen) und die Autonomie gefährden (nichts mehr alleine machen können). Sie können aber auch wieder verschwinden. Vielleicht. Das Gruseligste dabei ist die ständige Gefahr des Absturzes: körperlich, psychisch und sozial. Vor allem aber ist es ein schweres Leben mit MS, bei dem es uns die Gesellschaft nicht leicht macht, wenn wir zu Rollstuhlfahrerinnen geworden sind. Die fehlenden Toiletten und Zugänge signalisieren: bleibt zuhause!

Hätten alle Kinder in der Schule die Gelegenheit, einen Tag im Rollstuhl zu verbringen, wie in Integrativen Schulen geschehen, und könnten alle Kids inklusiv in der Schule so dabei sein, wie sie sind, dann, ja dann würde so etwas wie Empathie und Respekt gedeihen.





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