FORUM PSYCHOSOMATIK

Zeitschrift für Psychosomatische MS-Forschung, 23. Jahrgang, 2. Halbjahr 2013

Neue Ansätze in der Forschung

Die Stiftung LEBENSNERV hat den Auftrag, sich unter dem Aspekt einer ganzheitlichen und modernen psychosomatischen Perspektive neuen Herausforderungen der Forschung zu stellen. In dieser Ausgabe wollen wir Ihnen die Ansätze der "Disability Studies" und der "Partizipativen Gesundheitsforschung" vorstellen. Ausführlich werden wir anschließend über das aktuelle Verständnis von "Partizipation" berichten.

Disability Studies in der Praxis - Erfahrungen aus "erster Hand"

Von Swantje Köbsell

Mit dem Ansatz der Disability Studies, Behinderung jenseits von defizitorientierten und medikalisierenden Ansätzen "neu" zu denken, verändert sich auch die Forschung zum Thema Behinderung. Es geht nicht mehr darum, behinderte Menschen als "die Anderen" zum Forschungsobjekt zu machen, sondern sich anzusehen, wie, wo bzw. durch welche gesellschaftlichen Strategien und/oder alltäglichen Handlungen Nicht/Behinderung hervorgebracht, erhalten und institutionalisiert wird. Hier geht es zum Beispiel um Fragen der kulturellen Repräsentation: Wie werden Menschen mit Beeinträchtigungen in der Literatur, in den Medien dargestellt? Welche Bilder von Behinderung werden dabei transportiert und verfestigt (oder auch aufgebrochen)?
Eine andere zentrale Frage ist die danach, wie Behinderungserfahrungen erlebt werden und wie sie sich auf die Betroffenen auswirken. Wie erleben sich Menschen mit Beeinträchtigungen etwa im Gesundheitswesen? Wie wirken sich Normalitätsvorstellungen von LehrerInnen in der aktuellen Diskussion um Inklusion beziehungsweise deren praktischer Umsetzung aus?
Anhand solcher und ähnlicher Fragestellungen, die immer die Perspektive der Betroffenen - die "Erfahrungen aus erster Hand" - zentral setzen, werden neue Erkenntnisse über Behinderungsprozesse und ihre Veränderung gewonnen.

Dr. Swantje Köbsell arbeitet als Lektorin im Lehrgebiet "Inklusive Pädagogik" der Universität Bremen. Sie ist langjährige Aktivistin der emanzipatorischen Behindertenbewegung sowie Mitgründerin und Koordinatorin der Arbeitsgemeinschaft Disability Studies Deutschland (www.disabilitystudies.de).
Aktuelle Veröffentlichung: Wegweiser Behindertenbewegung. Neues (Selbst)
Verständnis von Behinderung, AG SPAK: Neu-Ulm

Partizipative Gesundheitsforschung

Von Michael T. Wright

Partizipative Gesundheitsforschung (PGF) bedeutet eine partnerschaftliche Zusammenarbeit, um gemeinsam neue Erkenntnisse zur Verbesserung des Gesundheitszustandes der Bevölkerung zu gewinnen. Das Kernprinzip der Partizipation unterscheidet die PGF wesentlich von anderen Formen der Gesundheitsforschung. Forschung wird nicht an, sondern mit den Menschen betrieben, deren Lebensverhältnisse oder Arbeitsweisen erforscht werden. Es werden keine abstrakten "Daten" generiert, die einen Abstand zu den Beforschten voraussetzen, sondern Informationen über das Leben beziehungsweise die Arbeit von den Menschen gewonnen, die sie selbst für relevant halten. Der Forschungsprozess wird als Partnerschaft zwischen allen Beteiligten(Stakeholdern) betrachtet, zu denen unter anderem WissenschaftlerInnen, Fachkräfte des Gesundheits-, Sozial- oder Bildungswesens und engagierte BürgerInnen der Zivilgesellschaft gehören. Um sich "partizipativ" nennen zu können, muss ein Forschungsprojekt die Menschen in den Forschungsprozess einbinden, deren Leben oder Arbeit im Mittelpunkt der Forschung stehen.

Partizipative Gesundheitsforschung entwickelt sich zu einem gesundheitswissenschaftlichen Ansatz, der besonders geeignet ist, Prozesse der Partizipation zu untersuchen und zu fördern. Ein besonderer Nutzen ist bei der Konzipierung und Durchführung von Maßnahmen für sozial benachteiligte Menschen zu finden, da hier die fehlende Teilhabe im Mittelpunkt der Problematik der ungleichen gesundheitlichen Chancen steht. Die PGF befindet sich international in einer Phase der Konsolidierung, bei der die wissenschaftlichen Kriterien und die Vor- und Nachteile dieses Ansatzes gegenüber anderen Ansätzen der gesundheitswissenschaftlichen Forschung erarbeitet werden. Hier nimmt die International Collaboration for Participatory Health Research eine zentrale Rolle ein. In Deutschland hat sich das Netzwerk Partizipative Gesundheitsforschung gegründet. In enger Kooperation mit der ICPHR arbeiten WissenschaftlerInnen, Praktiker/innen und andere Interessierte zusammen, um sowohl fachliche (methodologische und theoretische) als auch wissenschafts- und praxispolitische Fragen zu klären, um den partizipativen Forschungsansatz in Deutschland zu etablieren und zu verbreiten.

Prof. Dr. Michael T. Wright, LICSW, MS ist Professor für Methoden der empirischen Sozialforschung an der Katholischen Hochschule für Sozialwesen Berlin und dort Mitglied des Instituts Soziale Gesundheit. Er koordiniert die Geschäftsstellen des Netzwerks Partizipative Gesundheitsforschung und der International Collaboration for Participatory Health Research. Seine aktuellen wissenschaftlichen Schwerpunkte sind: Partizipative Sozialforschung (Aktionsforschung), Qualitätsentwicklung in der Gesundheitsförderung und Prävention, Partizipative Gesundheitsförderung und Prävention, HIV/Aids-Prävention.

Wright, MT (2013) Was ist Partizipative Gesundheitsforschung? Positionspapier der International Collaboration for Participatory Health Research. Prävention und Gesundheitsförderung. DOI 10.1007/s11553-013-0395-0
Quelle: IMEW Friedrichshainer Kolloquium 2013: Teilhabeforschung im interdisziplinären Dialog am 17.09.13; vgl. dazu www.imew.de





voriger Artikel ** nächster Artikel
FP-Gesamtübersicht
Startseite