FORUM PSYCHOSOMATIK

Zeitschrift für Psychosomatische MS-Forschung, 23. Jahrgang, 2. Halbjahr 2013

Partizipation in der Praxis

In der Ausgabe 2/2010 von FORUM PSYCHOSOMATIK haben wir den Vortrag von Dr. Sascha Köpke von der Universität Hamburg dokumentiert. Er hatte auf einem Symposium der Stiftung LEBENSNERV über "Selbst-Bemächtigung, Edukation und Empowerment" berichtet. Dabei ging es auch um das Konzept des "Shared Decision Making" oder auf Deutsch der "Partizipativen Entscheidungsfindung", die zwischen ÄrztInnen und PatientInnen geschieht. Dabei lohnt ein Blick auch das konkrete Verständnis von "Partizipation", einem Prinzip, das auch in der UN-Behindertenrechtskonvention verankert ist. Vielfach wird der Begriff lediglich mit "Teilhabe" übersetzt. Unser Autor Michael T. Wright zeigt jedoch auf, dass dies eine verkürzte Sichtweise ist und stellt ein Stufenmodell der Partizipation vor.

Partizipation bedeutet in unserem Verständnis nicht nur Teilnahme, sondern auch Teilhabe, also Entscheidungsmacht bei allen wesentlichen Fragen der Lebensgestaltung. Dazu gehört die Definitionsmacht und somit die Möglichkeit, die Gesundheitsprobleme (mit-)bestimmen zu können, die von gesundheitsfördernden beziehungsweise präventiven Maßnahmen angegangen werden sollen. Je mehr Einfluss jemand auf einen Entscheidungsprozess einnimmt, umso größer ist seine/ihre Partizipation.

Dieses Prinzip geht von der zentralen Forderung der Ottawa-Charta aus, Selbstbestimmung der BürgerInnen als Kern der Gesundheitsförderung zu realisieren. Sie basiert auch auf einer langjährigen Diskussion in der Stadtentwicklung und später in der Entwicklungsarbeit über die Rolle von BürgerInnen bei der Realisierung von Maßnahmen, die ihre Umgebung verbessern sollen. Diese Diskussion wurde maßgeblich von der Arbeit der US-Amerikanerin Sherry Arnstein beeinflusst, die in einem Artikel aus dem Jahr 1969 versucht, die Gründe für erfolgreiche Bürgerinitiativen zu erklären. Ihre Schlussfolgerung lautet, dass Veränderungen in Wohnvierteln, die den Alltag der Anwohner/innen nachhaltig verbessern, erst dann verwirklicht werden, wenn die BürgerInnen ihre Lebensbedingungen (mit-)bestimmen können.

Die Partizipative Qualitätsentwicklung legt einen besonderen Schwerpunkt auf die Teilhabe der Zielgruppen und ProjektmitarbeiterInnen, weil diese Akteure über lokales Wissen verfügen und wesentlich zum Erfolg von Intervention beitragen. Es sind auch diese Akteure, die an der Entwicklung von Qualitätssicherungsverfahren oft nicht beteiligt sind.

Partizipation ist kein "Entweder/Oder" sondern ein Entwicklungsprozess. Selbstreflexion und eine erfolgreiche Zusammenarbeit zwischen den Akteuren vor Ort fördern die Weiterentwicklung der Partizipation in Projekten der Gesundheitsförderung und Prävention. Partizipation ist je nach den Praxisbedingungen im Projekt und den Lebensbedingungen der Zielgruppe unterschiedlich realisierbar. Die Aufgabe besteht darin, die den Bedingungen entsprechend passende Stufe der Partizipation zu finden.

(Anm. d.Red.: Die Ottawa-Charta wurde im Jahr 1986 bei der ersten Internationalen Konferenz zur Gesundheitsförderung der Weltgesundheitsorganisation WHO verabschiedet; vgl. dazu http://www.euro.who.int/__data/assets/pdf_file/0006/129534/Ottawa_Charter_G.pdf)

Stufen der Partizipation

Unter Berücksichtigung der Ergebnisse aus unseren Forschungsprojekten und in Anlehnung an die Arbeit von Sherry Arnstein entstand ein Stufenmodell, das ermöglichen soll, die Ausprägung existierender partizipativer Prozesse in der Gesundheitsförderung und Prävention besser zu beschreiben. ProjektanbieterInnen können das Modell beispielsweise anwenden, um den Grad der in ihrer Arbeit erreichten Partizipation einzuschätzen und Möglichkeiten zur Steigerung der Partizipation zu konzipieren. Nach unserem Verständnis ist Partizipation, wie bereits gesagt, kein "Entweder/Oder" sondern ein Entwicklungsprozess. In vielen Zusammenhängen müssen zunächst Vorstufen der Partizipation realisiert werden, bevor eine umfassende Beteiligung der Zielgruppe an Entscheidungsprozessen möglich ist. Zahlreiche Maßnahmen, die sich für partizipativ halten, bieten keine Möglichkeit für eine Beeinflussung der Entscheidungsprozesse und sind daher nicht als partizipativ einzustufen.

Im Folgenden werden am Beispiel der Partizipation der Zielgruppe die einzelnen Stufen erläutert:

Auf der Ebene der Nicht-Partizipation sind verschiedene Varianten vorstellbar; hier beschreiben wir zwei Ausprägungen, die in der Gesundheitsförderung und Prävention oft anzutreffen sind:

Stufe 1: Instrumentalisierung
Die Belange der Zielgruppe spielen keine Rolle. Entscheidungen werden außerhalb der Zielgruppe getroffen, und die Interessen dieser Entscheidungsträger stehen im Mittelpunkt. Zielgruppenmitglieder nehmen eventuell an Veranstaltungen teil, ohne deren Ziel und Zweck zu kennen (Zielgruppenmitglieder als "Dekoration").

Beispiele:
Nur die Bewohner/innen eines Stadtviertels, die die Ansichten der Entscheidungsträger vertreten, werden nach ihrer Meinung gefragt. Das Ergebnis der Befragung wird als Meinung aller BewohnerInnen des Stadtviertels dargestellt. Kleine Kinder werden auf politischen Demonstrationen eingesetzt, um elterliche Positionen zu transportieren, ohne selbst zu verstehen, worum es bei der Veranstaltung geht.

Stufe 2: Anweisung
Entscheidungsträger (oft ausgebildete Fachkräfte) nehmen die Lage der Zielgruppe wahr. Ausschließlich auf Grundlage der (fachlichen) Meinung der Entscheidungsträger werden die Probleme der Zielgruppe definiert und Vorgänge zur Beseitigung oder Linderung der Probleme festgelegt. Die Meinung der Zielgruppe zu ihrer eigenen Situation wird nicht berücksichtigt. Die Kommunikation seitens der Entscheidungsträger ist direktiv.

Beispiele:
Viele herkömmliche Formen der medizinischen, psychotherapeutischen, pädagogischen und sozialarbeiterischen Beratung und Behandlung sind dadurch geprägt, dass Fachkräfte die alleinige Verantwortung für die Definition (Diagnose) des Problems und deren Beseitigung tragen. Professionell bestimmte Interventionen in diesem Sinne sind oft notwendig, zum Beispiel im Fall einer akuten Gefahr (Krankheit, Kindesmissbrauch) oder im Fall eingeschränkter Möglichkeiten seitens des/der Betroffenen (z.B. auf Grund geistiger Behinderungen, begrenzter Entscheidungskompetenzen bei jungen Kindern oder situationsspezifischer Einschränkungen in Krisensituationen).


Bei den Vorstufen der Partizipation handelt es sich um eine zunehmend starke Einbindung der Zielgruppe in Entscheidungsprozesse, auch wenn (noch) kein direkter Einfluss auf die Prozesse möglich ist.

Stufe 3: Information
Die Entscheidungsträger teilen der Zielgruppe mit, welche Probleme die Gruppe (aus Sicht der Entscheidungsträger) hat und welche Hilfe sie benötigt: Verschiedene Handlungsmöglichkeiten werden der Zielgruppe für die Beseitigung oder Linderung ihrer Probleme empfohlen. Das Vorgehen der Entscheidungsträger wird erklärt und begründet. Die Sichtweise der Zielgruppe wird berücksichtigt, um die Akzeptanz der Informationsangebote und die Aufnahme der Botschaften zu fördern.

Beispiel:
Herkömmliche Aufklärungsarbeit fällt in der Regel unter diese Kategorie. Ob im Rahmen von bundesweiten Kampagnen oder auf Veranstaltungen steht im Vordergrund die Mitteilung von Informationen, die von ExpertInnen aufbereitet und vorgestellt werden.

Stufe 4: Anhörung
Die Entscheidungsträger interessieren sich für die Sichtweise der Zielgruppe auf ihre eigene Lage. Die Mitglieder der Zielgruppe werden angehört, haben jedoch keine Kontrolle darüber, ob ihre Sichtweise Beachtung findet.

Beispiel:
Die am häufigsten verwendete Form der Anhörung in der Praxis der Gesundheitsförderung und Prävention ist die Befragung. Ob schriftlich oder mündlich, im Einzel- oder im Gruppengespräch geht es darum, die Situation der Zielgruppe in Erfahrung zu bringen. In der Regel werden die Berichte der einzelnen Personen oder Gruppen anonymisiert und mit den Aussagen von anderen zusammengetragen, um sich ein Bild über die Situation der Zielgruppe zu verschaffen.

Stufe 5: Einbeziehung
Die Einrichtung lässt sich von ausgewählten Personen aus der Zielgruppe (oft Personen, die den Entscheidungsträgern nah stehen) beraten. Die Beratungen haben jedoch keinen verbindlichen Einfluss auf den Entscheidungsprozess.

Beispiel:
Bei der Überlegung zur Errichtung eines neuen Angebots nimmt eine Einrichtung Kontakt zu einer Migrantenorganisation auf, um sich näher über die Situation der jungen Frauen aus dem entsprechenden Kulturkreis zu informieren.
Eine Vertreterin aus einer Selbsthilfegruppe für allein erziehende Mütter wird zu einer Vorstandsitzung eingeladen, um den Hilfebedarf der Frauen in ihrer Situation zu schildern.


Bei der "echten" Partizipation hat die Zielgruppe eine formale, verbindliche Rolle in der Entscheidungsfindung.

Stufe 6: Mitbestimmung
Die Entscheidungsträger halten Rücksprache mit VertreterInnen der Zielgruppe, um wesentliche Aspekte einer Maßnahme mit ihnen abzustimmen. Es kann zu Verhandlungen zwischen der Zielgruppenvertretung und den Entscheidungsträgern zu wichtigen Fragen kommen. Die Zielgruppenmitglieder haben ein Mitspracherecht, jedoch keine alleinigen Entscheidungsbefugnisse.

Beispiel:
Die Mitgliedschaft von VertreterInnen aus der Zielgruppe im Entscheidungsgremien (Vorstand, Beirat, Steuerungsgruppe) ist ein Beispiel der Mitbestimmung. Die Errichtung eines Nutzerbeirats bestehend ausschließlich aus Mitgliedern aus der Zielgruppe ist eine andere Form der Mitbestimmung. Formale Kooperationen mit Organisationen, die die Interessen der Zielgruppe vertreten, kann auch eine Mitbestimmung der Zielgruppe ermöglichen.

Stufe 7: Teilweise Übertragung von Entscheidungskompetenz
Ein Beteiligungsrecht stellt sicher, dass die Zielgruppe bestimmte Aspekte einer Maßnahme selbst bestimmen kann. Die Verantwortung für die Maßnahme liegt jedoch in den Händen von anderen, zum Beispiel bei MitarbeiterInnen einer Einrichtung.

Beispiel:
Eine Einrichtung will einen Aufklärungsfilm für Jugendliche zum Thema Sexualität entwickeln und beantragt eine Gruppe von Jugendlichen mit der inhaltlichen Gestaltung des Films. Eine Gruppe von ehrenamtlichen MitarbeiterInnen aus der Zielgruppe wird gebildet, deren Aufgabe es ist, neue Angebote für die Zielgruppe zu entwickeln und umzusetzen (Peer-Ansatz). Zum Beispiel: Frauen in der Prostitution werden organisiert, um andere Frauen zum Thema sexuell übertragbare Krankheiten aufzuklären. Die ehrenamtlich arbeitenden Frauen bestimmen, wie sie dieses Ziel am besten erreichen und bekommen von der Einrichtung Unterstützung, um ihre Ideen umzusetzen.

Stufe 8: Entscheidungsmacht
Die Zielgruppenmitglieder bestimmen alle wesentlichen Aspekte einer Maßnahme selbst. Dies geschieht im Rahmen einer gleichberechtigten Partnerschaft mit einer Einrichtung oder anderen Akteuren. Andere Akteure außerhalb der Zielgruppe sind an wesentlichen Entscheidungen beteiligt, sie spielen jedoch keine bestimmende, sondern eine begleitende oder unterstützende Rolle.

Beispiele:
Ein Nutzerbeirat in einer Einrichtung regt ein neues Angebot für die Zielgruppe an und übernimmt die Verantwortung für seine Planung und Durchführung.
Frauen in einem Wohnviertel haben das Anliegen, einen Kochkurs zu organisieren und bekommen hierfür eine Küche von einer Einrichtung zur Verfügung gestellt.
Eine Migrantenorganisation nimmt Kontakt zu einer AIDS-Hilfe auf, um Unterstützung bei der Gestaltung von Aufklärungsveranstaltungen in Moscheen zu bekommen.


Die letzte Stufe des Modells geht über die Partizipation hinaus. Sie umfasst alle Formen selbst organisierter Maßnahmen, die nicht unbedingt als Folge eines partizipativen Entwicklungsprozesses entstehen, sondern von Anfang an von BürgerInnen selbst initiiert werden können.

Stufe 9: Selbstorganisation
Eine Maßnahme beziehungsweise ein Projekt wird von Mitgliedern der Zielgruppe selbst initiiert und durchgeführt. Häufig entsteht die Eigeninitiative aus eigener Betroffenheit. Die Entscheidungen trifft die Zielgruppe eigenständig und eigenverantwortlich. Die Verantwortung für die Maßnahme liegt bei der Zielgruppe. Alle Entscheidungsträger sind Mitglieder der Zielgruppe.

Beispiele:
Diese Stufe schließt alle Formen von Initiativen ein, die von Menschen aus der Zielgruppe selbst konzipiert und durchgeführt werden. Diese können formell (z.B. als Verein) oder informell als (spontane) Aktion von Gleichgesinnten Menschen organisiert werden.

Quelle: www.partizipative-qualitaetsentwicklung.de
Autor/inn/en: Wright/Block/Unger
vgl. dazu auch den Aufsatz von Michael T. Wright: Partizipation in der Praxis: die Herausforderung einer kritisch reflektierten Professionalität. In: Rolf Rosenbrock, Susanne Hartung (Hg.): Handbuch Partizipation und Gesundheit, Bern 2012 (siehe "Neue Bücher" in dieser Ausgabe)





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