FORUM PSYCHOSOMATIK

Zeitschrift für Psychosomatische MS-Forschung, 23. Jahrgang, 1. Halbjahr 2013




Als Patient hat man oft fast das Bedürfnis, sich für die Umstände zu entschuldigen, die man da macht. Man verursacht ja dauernd so viele Kosten – mehr, als die Gesellschaft sich angeblich leisten kann. Oder gibt es gar keine „Kostenexplosion“?

Wenn man das wirklich verstehen will, muss man ein bisschen ausholen: Der Begriff der Kostenexplosion wurde von Heiner Geißler erfunden, der 1974 als Minister für Soziales, Gesundheit und Sport des Landes Rheinland-Pfalz eine „vorausschauende Studie“ über die finanzielle Entwicklung der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) vorlegte. Spätestens nachdem kurz danach, Mitte 1975, eine mehrteilige Serie im Spiegel mit dem Titel „Krankheitskosten: Die Bombe tickt“ erschienen war, dachte es jeder: Wir steuern auf einen sozialpolitischen Abgrund zu, auf ein Finanzierungsfiasko. Und jeder von uns hat genau das in seinem Geldbeutel heftig zu spüren bekommen, schließlich ist der Beitragssatz zur GKV von 11 Prozent im Jahr 1980 auf inzwischen 15,5 Prozent im Jahr 2011 gestiegen. Nimmt man aber den Blick wieder aus dem individuellen Geldbeutel heraus und richtet ihn auf das Gesamte des Systems unserer Gesetzlichen Krankenversicherung, dann kann man doch als Erstes feststellen:

Es gibt sie noch, die GKV. Keine Bombe ist explodiert, nichts ist an die Wand gefahren oder in den Abgrund gestürzt, und das nach 40 Jahren Kostenexplosion. Wie das? Die Antwort lautet in aller Kürze: Die These von der Kos tenexplosion lässt sich bei einer g enauen Analyse nicht halten. Es handel t sich um ein Propagandamärchen. Der Anteil der Ausgaben für das Gesundheitswesen am Bruttoinlandsprodukt beträgt seit Jahrzehnten konstant 10 bis 11 Prozent: keinerlei Kostenexplosion, nirgends. Die Beitragseinnahmen allerdings hinken dem hinterher, sie können immer weniger mithalten. Wenn also immer tiefer in unseren Geldbeutel gegriffen wird, dann nicht weg en explodierender Kosten, sondern wegen zusammenbrechender Einnahmen, das ist das ganze Geheimnis. Wir sind in unserem Land immerhin durch eine Phase von mehr als 5 Millionen Arbeitslosen hindurchgegangen, ein gigantischer Verlust an Lohnsumme und Versicherungsbeiträgen. Und wenn die Arbeitslosenzahlen heute auch besser aussehen, dann hat die GKV dennoch nichts davon, denn diese Zahlen sind nicht nur durch Millionen von so genannten „prekären“ Arbeitsverhältnissen, von Ein-Euro- oder anderen Minijobs enorm geschönt, solche Jobs bringen auch keinen Euro in die Kasse der Krankenkassen, sie sind nicht sozialversicherungspflichtig. Außerdem gibt es kein Land in Europa, in dem die Löhne in den letzten zehn Jahren weniger gestiegen sind als in Deutschland: auch dieses Geld fehlt also in der Kasse der GKV.

Was soll also das permanente Geschwätz von der Kostenexplosion, ohne das keine Talkshow über das Gesundheitswesen auskommt, und das in ausnahmslos al len Medien – ob seriös oder nicht – immer weiter und immer wieder weit er er zählt wird? Es geht um Geld. Im Gesundheitswesen geht es um viel Geld, um sehr viel Geld. Etwa 170 Milliarden hat die GKV zu verteilen, insgesamt sind es sogar über 250 Milliarden Euro. Der gesamte Bundeshaushalt betrug – zum Vergleich – im Jahr 2010 knapp 320 Milliarden Euro. Zehn Prozent der Arbeitsplätze in unserem Land sind im Gesundheitswesen angesiedelt. Ich behaupte ganz einfach: Wer immer weiter von einer Kostenexplosion fabuliert, der will das solidarische System der Gesetzlichen Krankenversicherung zerstören, um einen ungehinderten Zugriff auf diese 250 Milliarden zu bekommen.

Mir ist es in letzter Zeit häufiger passiert, dass ich bei Fachärzten deutlich später einen Termin bekam als eine Freundin, die Privatpatientin ist. Spricht man Ärzte im Be-kanntenkreis darauf an, sagen die, dass sie ja auch sehen müssten, wo sie bleiben. Ist das tatsächlich Not-wehr oder Elend auf hohem Ni-veau?

Ich weiß nicht, wen ich mehr bedauern soll, Sie oder Ihre Freundin. Tatsächlich glaube ich, dass unser System noch immer so gut funktioniert, dass ein Patient in einer Notlage nicht auf ärztliche Behandlung warten muss und dabei Schaden nimmt, egal wie er versichert ist. Wenn es sich allerdings um nicht akute Erkrankungen handelt, ist es sicher nachweisbar, dass Privatpatienten schneller einen Termin bekommen. Ist das wirklich so schlimm? Die Privatpatienten büßen dafür nämlich mit einer wesentlich höheren Zahl von überflüssigen Untersuchungen, von überflüssigem Eins atz von teuren Apparaten und von überflüssigen Operationen – weil es so lukrativ ist. In gewissem Sinn ist der Status des gesetzlich Versicherten auch ein Schutz.








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