FORUM PSYCHOSOMATIK

Zeitschrift für Psychosomatische MS-Forschung, 22. Jahrgang, 1. Halbjahr 2012

Leseprobe*

Expressives Schreiben und Immunaktivität –
gesundheitsfördernde Aspekte der Selbstöffnung

von Andrea B. Horn, Matthias R. Mehl, Fenne große Deters

Einleitung

Ob in Tagebüchern, Blogs, Briefen, E-Mails oder Romanen – viele Menschen schreiben über das, was sie bedrückt und beschäftigt. Goethe ließ die fiktive Person Werther Briefe schreiben, um über seine unglückliche Liebe hinwegzukommen, Kafka versuchte in seinem nie versandten „Brief an den Vater“ seine schwierige Beziehung zu seinem Vater aufzuarbeiten und Anne Frank half ihr Tagebuch dabei, ihre bedrückende Situation zu ertragen. Warum aber greifen so viele Menschen zum Stift, um ihren Gefühlen Ausdruck zu verleihen und sich selbst zu öffnen?

Betrachtet man die Situationen, die Menschen dazu bringen, über ihre Gefühle und Gedanken zu schreiben, scheint Schreiben insbesondere bei der Auseinandersetzung mit belastenden Erfahrungen als hilfreich erlebt zu werden. Stellt das Schreiben von Tagebüchern, Briefen, Romanen und Ähnlichem also eine effektive Copingstrategie dar? Fördert es die Verarbeitung von bedrückenden Erlebnissen und erleichtert es den Umgang mit negativen Gefühlen?

In den achtziger Jahren begann James W. Pennebaker erstmals dieses Phänomen mittels einer standardisierten Schreibaufgabe wissenschaftlich zu erforschen und die Effekte des Schreibens auf die körperliche und seelische Gesundheit des Schreibenden empirisch abzubilden (Pennebaker u. Beall 1986). Bestechend durch die Einfachheit der Anwendung und die vielseitigen positiven Effekte hat das Paradigma des Expressiven Schreibens in den letzten zwanzig Jahren zu einer Vielzahl an Forschungsarbeiten und Anwendungsideen in sehr unterschiedlichen Bereichen von Psychologie und Medizin inspiriert.(...).

Das Ziel des vorliegenden Kapitels ist es, einen Überblick über die Forschung zum Expressiven Schreiben unter besonderer Berücksichtigung psychoimmunologischer Befunde zu geben und die Möglichkeiten und Grenzen der Anwendung des Expressiven Schreibens im Rahmen der Psychotherapie zu diskutieren. Nach einer Einführung wird ein kurzer Überblick über das Paradigma des Expressiven Schreibens gegeben. Der dritte Teil des Kapitels beschäftigt sich mit den Effekten des Expressiven Schreibens unter besonderer Berücksichtigung immunologischer Befunde. Danach werden existierende Erklärungsmodelle diskutiert. Im letzten Teil werden Potenziale des Paradigmas für die psychotherapeutische Anwendung aufgezeigt.

Das Paradigma des Expressiven Schreibens

In den achtziger Jahren entwickelte James W. Pennebaker das Paradigma des Expressiven Schreibens (ES): In seiner ersten Studie (Pennebaker u. Beall 1986) ließ er Studenten an vier aufeinanderfolgenden Tagen für jeweils 15 min über ein traumatisches Erlebnis und die Kontrollgruppe über ein oberflächliches Thema schreiben.

Direkt nach den Schreibsitzungen waren die Probanden aus der Experimentalgruppe schlechterer Stimmung und wiesen einen höheren Blutdruck auf – langfristig zeigte sich jedoch, dass sie in den auf das Experiment folgenden sechs Monaten deutlich seltener zum Arzt gingen als jene Studenten, die lediglich über ein belangloses Thema geschrieben hatten. Ausgehend von diesen Befunden ist das Paradigma des ES in vielfältigen Abwandlungen von Instruktion, Schreibthema, Dauer, Häufigkeit und Abstand der Schreibsitzungen angewendet worden. Zahlreiche Studien zeigten positive Effekte dieser wenig aufwendigen Intervention auf die körperliche und seelische Gesundheit sowie auf objektive Verhaltensdaten.

Der Ablauf des klassischen Paradigmas lässt sich folgendermaßen beschreiben:





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