FORUM PSYCHOSOMATIK

Zeitschrift für Psychosomatische MS-Forschung, 22. Jahrgang, 1. Halbjahr 2012



Stärkere Forschungsanstrengungen erforderlich

Ich würde es begrüßen, wenn stärkere Anstrengungen zur Erforschung der Zusammenhänge zwischen psychischen Ursachen (nicht nur: „Auslösern“) und körperlichen Folgen bzw. zwischen den neurobiologischen, psychosomatischen und psychotherapeutischen Ansätzen bei der MS stattfänden. In diesem Zusammenhang verspreche ich mir sehr viel von den Arbeiten Professor Johann Caspar Rüeggs und habe seinen Artikel über „das feine Zusammenspiel zwischen Psyche und Immunsystem“ in der Ausgabe 2 – 2008 mit großem Interesse gelesen.

Ähnlich wie Frau Praetorius habe ich übrigens auch sehr positive und heilsame Erfahrungen mit dem regelmäßigen Spielen eines Musikinstrumentes machen können. Nachdem ich 2005 nach einem Sturz einen Bruch des Oberschenkelknochens erlitt, war ich insgesamt 16 Monate krank geschrieben, davon sechs Monate Rollstuhlfahrer (ironischerweise nicht, wie jahrelang befürchtet, aufgrund der MS, sondern wegen der fehlenden Belastbarkeit des gebrochenen Oberschenkels). Nach einem knapp sechswöchigen Krankenhausaufenthalt und weiteren elf Wochen stationärer Kurzzeitpflege zog ich zu meiner Lebensgefährtin, einer Geigenlehrerin und ihren vier Kindern, die alle ein Instrument spiel(t)en (Geige, Querflöte, Cello, E-Bass und Gitarre).

Das Leben in dieser Familie war und ist für mich immer wieder eine Herausforderung, aber auch Bereicherung – beides nicht nur wegen der Musik. Während dieser Zeit habe ich im Alter von 44 Jahren – mit MS und ohne musikalische Vorkenntnisse – nach einigen Klavierstunden begonnen, Geige zu lernen und ein Jahr später als zweites Instrument noch die Gitarre hinzu genommen. Ich habe in drei Jahren viel auf diesen beiden Instrumenten gelernt, das ich nicht für möglich gehalten hätte. Und: ich habe nach jeder Übungs- und Unterrichtssunde eine Verbesserung meines psychischen und körperlichen (!) Befindens verspürt; für mich ein weiterer Beleg für das Zusammenspiel zwischen Körper und Psyche! Während die manuellen Griffe auf den Instrumenten meine eigene Ergotherapie waren, waren die wöchentlichen Unterrichtsstunden bei den Lehrern gleichzeitig auch immer sehr angenehme soziale Kontakte. Insofern war und ist Musik für mich auch Therapie!

Ähnlich wie Frau Praetorius beziehe auch ich eine teilweise Erwerbsminderungsrente, die es mir bei relativ geringen finanziellen Verlusten ermöglicht, Arbeit mit Therapien (siehe oben), Familie und Freizeit in Einklang zu bringen. Nachdem ich sieben Jahre als Führungskraft und weitere sieben Jahre als Referent, stellvertretender Referatsleiter und Redenschreiber in verschiedenen Ministerien und Behörden gearbeitet habe (trotz MS meistens mit 50 bis 60 und mehr Arbeitsstunden pro Woche), bin ich seit fünf Jahren als Berufsberater in Teilzeitform tätig. Diese Tätigkeit macht mir mehr Freude als ich jemals gedacht hätte. Durch Zellklarheit habe ich erkannt, dass ich die Anerkennung meiner Person früher nur von „außen“, d.h. über schulische, universitäre und berufliche Erfolge bzw. über „Karriere“ bezogen habe. Dies brauche ich jetzt nicht mehr.

Erfahrungen mit ÄrztInnen

Die negativen Erfahrungen, die viele Betroffene mit ÄrztInnen gemacht haben, kann ich im Übrigen nicht bestätigen. Den Ärzten, die mich seit einigen Jahren behandeln, gebührt Anerkennung, Dank und Respekt für ihr Einfühlungsvermögen, ihre Zeit und ihre Geduld, die sie mir trotz der Restriktionen unseres Gesundheitswesens entgegengebracht haben.

Allerdings habe ich zu Beginn meiner Erkrankung vor vielen Jahren auch eine sehr negative, schockierende und prägende Erfahrung gemacht: Nachdem ich vom Chefarzt der Neurologie eines großen städtischen Krankenhauses ambulant untersucht worden war, schlug er mir zum Zweck weiterer neurologischer Untersuchungen einschließlich erstmaliger Lumbalpunktion einen einwöchigen stationären Aufenthalt vor, ohne mir seinen Verdacht mitzuteilen. Da ich mich noch recht gut an die Lumbalpunktionen erinnern konnte, die ich als Neunjähriger während der Diagnose und Behandlung einer Gehirnhautentzündung erlebt hatte, zögerte ich. Als ich vor dem Verlassen des Krankenhauses einen Termin für die stationäre Aufnahme mit der Sekretärin des Chefarztes vereinbaren sollte, fragte sie mich: „Hat der Doktor mit Ihnen über Ihre Krankheit gesprochen?“ Als ich verneinte, fragte sie: „Hat er Ihnen gesagt, dass Sie MS haben?“ In diesem Fall war es also nicht der Arzt, sondern dessen Sekretärin, die sehr unachtsam mit ihrer Aussage war.

Ich kann gar nicht beschreiben, wie ich mich in jenem Moment fühlte. Ich verließ wortlos das Krankenhaus und ging wie benebelt nach Hause. Es folgten schlimme Wochen und Monate, in denen ich mir die (vermutlich üblichen) Fragen stellte: Wann werde ich im Rollstuhl sitzen? Welche Auswirkungen hat MS auf meine Sexualität? Ist die Krankheit vererbbar? Werde ich jemals Kinder haben können? Welcher Arbeitgeber würde mich jetzt noch einstellen? Wie lange werde ich noch Sport treiben können? Ich wusste nichts über MS, außer dass es sich um eine sehr schlimme Krankheit handelt, in deren Verlauf man vermutlich im Rollstuhl enden würde.

Mein damaliger Hausarzt wusste auch nicht viel über MS. Es dauerte lange, bis ich einen Neurologen fand, dem ich vertraute. Die Lumbalpunktion und damit die endgültige Diagnose habe ich erst viele Jahre später durchführen lassen!



* Der Name und die vollständige Adresse des Autors sind der Redaktion bekannt. Er hat darum gebeten, dass sein Name nicht veröffentlicht wird.





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