FORUM PSYCHOSOMATIK

Zeitschrift für Psychosomatische MS-Forschung, 21. Jahrgang, 1. Halbjahr 2011

Diagnose: Von gestern?


Von Leitlinien für die Behandlung von Knochenbrüchen bis zu Leitlinien für die Behandlung von seelischen Erkrankungen, alles ist erfasst, alles ist geregelt. Daran gibt es Kritik.


Dr. med. Bernd Hontschik

Die medizinischen Fachgesellschaften haben für die Diagnostik und Therapie fast aller bekannten Krankheiten Leitlinien erstellt: Darin findet sich das Fachwissen auf dem neuesten wissenschaftlichen Stand. Von Leitlinien für die Behandlung von Knochenbrüchen bis zu Leitlinien für die Behandlung von seelischen Erkrankungen, alles ist erfasst, alles ist geregelt. Wer sich als Arzt nicht an die aktuellen Leitlinien hält, der ist von gestern, könnte Ärger bekommen. Es gibt aber auch scharfe Kritik an Leitlinien, die immer mehr wie allgemeingültige Behandlungsvorschriften daherkommen. Besonders die Zusammensetzung der Kommissionen wird kritisiert, die diese Leitlinien erstellen. So wurde beispielsweise im Juli 2004 die Leitlinie zur Hypercholesterinämie, einer Fettstoffwechselstörung, „revidiert“.

Durch die Absenkung der Grenzwerte waren mit einem Schlag acht Millionen US-Bürger zu Patienten geworden. Diese Leitlinie war bereits einige Zeit zuvor „überarbeitet“ worden, womit schon einmal 23 Millionen USAmerikaner über Nacht behandlungsbedürftige Kranke geworden waren. Mit der Leitlinien-Medizin ist eine Expertengläubigkeit verbunden, die blind macht für die Abhängigkeit dieser Experten, etwa von der Pharmaindustrie.

Jüngst hat sich bei einer Befragung herausgestellt, dass nur elf Prozent von circa 1000 deutschen Hausärzten die Leitlinie zur Bluthochdruckbehandlung richtig anwenden und nur 24 Prozent die Leitlinie zur Therapie der Herzinsuffizienz.

Da muss man doch erschrecken! Ist die große Mehrheit der Hausärzte von gestern? Viele Hausärzte kennen also den modernen Stand ihrer Wissenschaft nicht – könnte man meinen.

Doch halt: Eine Stichprobe bei Patienten von 15 leitliniengerechten Arztpraxen und Patienten von 15 Leitlinienmuffeln ergab, dass es den Patienten bei den nicht leitliniengerechten Hausärzten gesundheitlich genauso gut (oder schlecht) ging wie den Patienten bei den modernen, leitlinienkonformen. Leitlinien täuschen eine allgemeingültige Objektivität vor, die es in der Medizin niemals geben kann.

Leitlinien können den momentanen Stand der Erkenntnisse zusammenfassen, aber sie sind als Behandlungsvorschriften sinnlos. Hundert Diabetiker haben nicht mehr gemeinsam als ihren erhöhten Blutzuckerwert. Alles Weitere bleibt der Arzt-Patient-Beziehung überlassen, in jedem einzelnen Fall anders. Leitlinien sind allein an Krankheiten orientiert, aber Ärzte behandeln Kranke, keine Krankheiten. Gestern, heute und morgen.

Bei der Behandlung der Multiplen Sklerose spielen heutzutage die Interferone eine wichtige Rolle. Natürlich sind die Interferone auch in den Leitlinien verankert. Diese Leitlinien wurden 1999 erstmals von der Multiple-Sklerose-Therapie- Konsensus-Gruppe der deutschen, österreichischen und Schweizer MS-Gesellschaften formuliert und kommen als „immunmodulatorische Stufentherapie“ zur Anwendung. Ich lasse unbeachtet alle Fragen nach dem Kontext der Experten, obwohl diese zum Verständnis einer Leitlinie wahrscheinlich entscheidend sind. Ich referiere Ihnen nur das Ergebnis dieser einen Leitlinie in der täglichen Praxis. Im Bereich Hessen sieht das so aus: Mitte 2005 wurde die Berentung einer Patientin mit Multipler Sklerose mit der Begründung abgelehnt, sie habe sich trotz dringenden ärztlichen Anratens einer Behandlung mit Betainterferonen widersetzt. 2006 wurde der Rehabilitationsantrag eines Leiters einer MS-Selbsthilfegruppe von seinem Rentenversicherungsträger zurückgewiesen, weil er sich bisher nicht mit Betainterferonen habe behandeln lassen. Ebenfalls im Jahre 2006 erhielt ein MSPatient von seiner privaten Krankenkasse den unmissverständlichen Hinweis, dass man die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall demnächst einstellen werde, wenn er sich weiterhin der Behandlung mit Betainterferonen entziehen würde. Der Einzelfall wird völlig bedeutungslos, die Leitlinie, der sogenannte Behandlungspfad darf nicht verlassen werden, ist zur Behandlungsvorschrift geworden.



Dr. med. Bernd Hontschik war Oberarzt an der Chirurgischen Klinik des Städtischen Krankenhauses Frankfurt/Main-Höchst und arbeitet seit seiner Niederlassung 1991 als Chirurg und Unfallarzt. 1989 erhielt er den Roemer- Preis für Psychosomatische Medizin. Lehrtätigkeit am Institut für Transkulturelle Gesundheitswissenschaft der Viadrina in Frankfurt an der Oder. Herausgeber der Suhrkamp-Reihe „medizinhuman“ (www.medizinHuman.de) und Kolumnist in der Frankfurter Rundschau (FR). Der vorliegende Beitrag ist am 5. Februar 2011 in der FR erschienen und wurde vom Autor für FORUM PSYCHOSOMATIK um einen Zusatz zu den Leitlinien bei MS ergänzt. Zu Hontschik siehe auch die „Bücherkiste“ in dieser Ausgabe.






voriger Artikel ** nächster Artikel
FP-Gesamtübersicht
Startseite