Stiftung LEBENSNERV,
FORUM PSYCHOSOMATIK 2/08

Von erkälteten Köpfen und
geplatzten Gallenblasen

Jutta vom Hofe


Migranten haben oft ein anderes Verständnis von Gesundheit und Krankheit, wegen kultureller und religiöser Unterschiede. Aber auch wegen mangelnder Sprachkenntnisse kommt es zu Missverständnissen – und gar zu Fehldiagnosen Alarmiert rief die deutsche Ärztin ihren türkischen Kollegen an: „Ali, du musst sofort kommen!“ Vor ihr stand eine aufgeregte Frau. Ihr Zustand schien dramatisch. „Meine Gallenblase ist geplatzt“, schluchzte sie. Das bedeutet Lebensgefahr. Sofort in den Operationssaal. Doch was tat Ali Kemal Gün, als er die Selbstdiagnose der türkischen Patientin hörte? Er lachte laut und herzlich.

Für den Psychotherapeuten von den Rheinischen Kliniken in Köln war klar, was die Patientin meinte. Nichts weiter als: Ich habe mich erschrocken.

Die Beschreibung des körperlichen Zustands ist lediglich eine Chiffre für den seelischen Zustand der Patienten. Auch im Deutschen kennt man Beispiele dieser „Organsprache“, wie Ali Kemal Gün sie nennt: die Laus, die einem über die Leber gelaufen ist, die Herzschmerzen aus Liebe, die Enttäuschung, die auf den Magen schlägt. In anderen Kulturkreisen finden die Menschen andere Bilder und Metaphern für ihre Gefühle und Befindlichkeiten. Wenn ein türkischer Patient zum deutschen Arzt sagt: „Ich habe meinen Kopf erkältet“, ist meist die Verwirrung komplett. Sind es Kopfschmerzen? Oder vielleicht eine Erkältung? Dabei will derjenige nur seine angeschlagene psychische Verfassung zum Ausdruck bringen. „Er sagt damit“, so der türkische Psychotherapeut, „ich bin dabei durchzudrehen, ich werde verrückt.“ Spricht er von seinem „gebrochen Arm“, heißt das: „Ich fühle mich ohne Halt“. Gerade psychische Leiden würden in der türkischen Gesellschaft gerne mit Beschreibungen von organischen Störungen chiffriert. Wer den Zugangscode nicht kennt, versteht da nur Bahnhof.

Rund 15 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund leben in Deutschland; das ist fast jeder fünfte Einwohner, bei Kindern unter sechs Jahren ist es jedes dritte. So gut wie jeder Arzt oder jede Ärztin in Deutschland behandelt heute ausländische Patienten. Viele Praxen haben einen Ausländeranteil von 20 bis 30 Prozent. Doch längst nicht alle der behandelnden Mediziner stellen sich die Frage: Bedeutet der Begriff „Kopfschmerz“ in Ankara eigentlich dasselbe wie in Aschaffenburg? Ist mit „Leberbeschwerden“ in Baku dasselbe gemeint wie in Berlin?





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