Stiftung LEBENSNERV,
FORUM PSYCHOSOMATIK 1/08
Warum hat sich das Weizsäckersche Denken letztlich in der Medizin nicht durchgesetzt?
Wo lagen und liegen die Widerstände?

Ich verstehe das auch nicht. Wenn man eine Klinik leitet, so wie ich das hier in Berlin viele Jahre lang durfte, dann begegnet einem gar kein Widerstand. Ich habe bei jeder Visite, bei jeder Patientenbegegnung, bei jeder Anamnese, bei der Krankenvorstellung versucht, bei Weizsäcker zu bleiben. Es gab kaum Widerstand. Auch bei den Studenten nicht, die einen ja in der Zeit nach 1968 in der Vorlesung und auch sonst direkt unterbrochen haben und sehr direkte Fragen stellten. Gut, die Krankenschwestern fanden die Gespräche mit den Kranken manchmal mühsam, weil es für sie zeitraubend war und sie bei den langen Visiten nicht ihr Pensum schafften. Aber in der Sache fanden sie es einleuchtend. Und sie waren auch alle stolz darauf einbezogen zu sein. Denn es ist wichtig einzubeziehen, was Krankenschwestern als Krankenschwestern sehen und sagen. Wenn eine Klinik sich insgesamt als ein aneinander interessierter Organismus darstellt, dann hat das alles einen gewinnenden Charakter und überhaupt nichts Widerständiges.


Was verstehen Sie unter dem Krankenhaus als Organismus?

Ein Arbeitsfeld, das alleMitwirkenden als einen sinnvollen Lebensraum empfinden, in dem sie von der Küchenfrau bis zum Chefarzt einander bestätigen, um ihre gegenseitige Abhängigkeit wissen und täglich die Erfahrung machen, dass ihr Tun Sinn macht und Sinn gibt.


Unter dem Aspekt des Ökonomischen und dem der Zeitersparnis muss eine Vorstellung vom Krankenhaus als Organismus unter der Ärzteschaft immer Widerspruch erregen. Daraus ergibt sich doch Widerstand?

Der stärkere Widerstand kommt durch die aus der Weizsäckerschen Denkweise hervorgehende Konsequenz, dass der Patient seine Krankheit nicht nur hat, sondern auch macht. Der Bandscheibenvorfall ist ein sehr klassisches Beispiel, bei dem sich oft ein Zusammenhang zwischen Krankengeschichte und Lebensgeschichte in Erfahrung bringen lässt. Dieser Mensch ist etwa durch familiäre Umstände in eine An- und Verspannung hineingeraten und fühlt sich seit Jahren überfordert. Wir haben das immer daran gemerkt, dass die Leute ins Krankenhaus kamen, dringend eine Spritze verlangten, um dann sofort wieder weitermachen zu können. Manchmal mussten wir sie zwingen, sich ins Bett zu legen. Dann mussten sie unbedingt ein Telefon haben. Vom Bett aus haben sie dann weitergearbeitet. Es hat einen geschwindelt, was diese Bandscheibenpatienten alles zu machen hatten und in welcher Spannung sie stets waren. Die anderen Mediziner sagen vielleicht: „Ach was, der hat sich nur verhoben“. Wir behaupten, dass es kein Zufall ist, wenn er sich genau in dem Moment am Koffer verhoben hat, auch das hat eine Vorgeschichte. Man muss doch fragen, warum gerade zu diesem Zeitpunkt? Und was hat ihn so vulnerabel gemacht? Das ist das, was man unter Psychogenese versteht. Er war doch selbst an dieser Vorgeschichte beteiligt. Und da muss er wieder herauskommen, unter Umständen mit Opfern. Die Betrachtung einer aktiven Mitwirkung am Krankwerden wie am Gesundwerden führt in der Medizin immer zu einem Widerstand.


Sie haben als Begründung, warum sich die Weizsäckersche Methode nicht durchsetzt, den ökonomischen Druck und das Verhalten des Patienten genannt. Was ist mit dem ärztlichen Kollegen?

Das ist sehr richtig, was Sie sagen. Es wäre mir lieber, etwas anderes zu behaupten, aber es hängt ein bisschen mit der Unbildung vieler Ärzte zusammen. Nur, was heißt in diesem Zusammenhang Bildung? Bildung heißt Interesse an allen Lebensäußerungen des Menschen. Ich finde immer erstaunlich, wie wenig davon vorhanden ist. Wenn man danach fragt, wird man allerdings mit Problemen konfrontiert. Der Arzt ist aber erzogen, auf Beschwerden zu reagieren, das heißt Beschwerden zu beseitigen. Da kommen wir an einen ganz wesentlichen Punkt. Die banale Art ist, dass er zum Rezeptblock greift und sagt: „Dann nehmen Sie mal das“. Aber dieWeizsäckersche Art wäre, nach den Beschwerden zu fragen: „Wo kommen sie her? Seit wann haben Sie sie?“ Durch diese Fragen nähert man sich den Problemen, die, wenn man genauer hinsieht, oft nicht lösbar sind. In dem Moment hilft kein Rezept, keine Operation und auch kein „Lassen Sie doch mal!“ und erst recht kein Mitleid. Es ist ganz falsch, sich einen Arzt vorzustellen, der vorher alles weiß. Es ist eine gemeinsame Arbeit von Arzt und Patient. Und damit verändert sich etwas, auch im Arzt selber. Bei Weizsäcker ist das Verhältnis von Arzt und Patient und von Patient und Arzt immer ein gegenseitiges. Genau das wird in der Medizinschule nicht gelernt. Da ist der Arzt der Wissende und der Könnende und der Patient ist der Hilfebedürftige. Der Arzt ist der, der helfen kann. Aber, dass er mit dem Patienten daran arbeitet und die Situation umfassender zu begreifen sucht, das ist etwas, was viele noch scheuen.








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