Stiftung LEBENSNERV,
FORUM PSYCHOSOMATIK 1/08
DasWeizsäckersche Gespräch bedeutete also eine besondere Begegnung
zwischen dem Arzt und dem Kranken, durch das ein bestimmtes
Wissen hervorgelockt wurde?

Dieses Wissen war kein direktes, unmittelbaresWissen, sondern ein verborgenes. Es wunderte den Kranken oft selbst, weil er vor dem Gespräch nicht wusste, dass er es wusste. Dieses verborgeneWissen fanden wir aufregend. Uns hat interessiert, wie von Weizsäcker mit Kranken sprach. Wir versuchten, unseren Kranken ähnlich zu begegnen.Wenn jemand schon in einer Situation ist, die krank macht, warum bekommt er dann eine Halsentzündung, warum bekommt er eine Gelbsucht oder Zahnschmerzen? Warum ist dann dieses Organsystem und kein anderes betroffen? Von Weizsäcker hat versucht, dieses Warum – „warum gerade jetzt“ und „warum gerade hier" – des Krankwerdens ohne Vorwissen und Vorurteil beim Kranken selbst entstehen zu lassen. Danach erst hat er aus dem reichen Schatz seines medizinischenWissens ähnliche Vorkommnisse und Lokalisationen berichtet. In Weizsäckers Gesprächsmethode vereint sich Unvoreingenommenheit mit solider medizinischer Kenntnis.


Wie hat denn Ihrer Meinung nach Weizsäckers biografische Methode die Medizin verändern können?

VonWeizsäcker hat gezeigt, dass es wichtig ist, viel mehr zu wissen, als das, was man in der Schule lernt. In der medizinischen Ausbildung gibt es ein bestimmtes Raster, das man abfragt. Etwa die Fragen nach Krankheiten in der Familie, nach Kinderkrankheiten usw. Das wurde abgefragt, vom Kranken beantwortet und vom Arzt notiert. Deshalb kannte man als Assistent den Begriff der Krankengeschichte immer nur als Formular. VonWeizsäcker hat diesen Begriff aber wörtlich genommen. Indem er die Entstehung und das Krankwerden im geschichtlichen Leben des Menschen und damit auch in seinen familiären und gesellschaftlichen Zusammenhängen ernst nahm. Er brachte in die Medizin, dass Krankheiten immer Krankengeschichten sind. Akademisch gesprochen gilt es nach von Weizsäcker Generalist zu sein. Der Arzt muss im Grunde für die gesamten Lebenszusammenhänge und somit für alle Lebensaspekte des Kranken offen sein. Aber Weizsäcker wollte, dass man sich im Fachlichen konzentriere und sich in den allgemein menschlichen Zusammenhängen erweitere. Das war für meine Generation beim Neubeginn nach 1945 das Anziehende bei von Weizsäcker und seiner Medizin.


Also die Forderung der medizinischen Anthropologie1?

Wir verwenden den Begriff anthropologisch immer dann, wenn wir die Beschreibung dieses Werdens, Entstehens und Vergehens von Krankwerden und Kranksein oder des Gesundens nicht rein körperlich und nicht rein psychisch vornehmen wollen. Und vor allem, wenn wir den Begriff der Ganzheit vermeiden wollen. Von Weizsäcker stand dem Begriff der Ganzheit sehr skeptisch gegenüber. Einmal deshalb, weil er sagte, man könne das Ganze gar nicht denken, ferner könne man das Ganze gar nicht kennen. Und dann auch, weil er meinte, wenn man behaupte, dass man den ganzen Menschen behandle, behaupte man auch zu wissen, was ein ganzer Mensch sei. Aber das sei Hochmut und Anmaßung. Darum schätzte von Weizsäcker den Begriff des ganzen Menschen ebenso wenig wie den der Ganzheitsmedizin. Der medizinische Weg seines Schülers Paul Vogel scheint sich zwischen der Frage der medizinischen Lokalisation einer Krankheit und der Frage ihrer Geschichte im Sinne von Weizsäckers zu bewegen. Vogel schreibt:„Die Symptome gleichen der Sprache des Organs. Dieses kann sich nur in bestimmten Redewendungen äußern. Aber in diesen spricht es von dem, was ihm widerfahren ist. Und das ist eine Geschichte.“2

Eine triviale Anekdote mag dies zunächst beleuchten. Mein Chef Vogel war mit einem Theologen befreundet, den er am Sonntag oft besuchte. Günther Bornkamm, so hieß der Theologe, fand Vogel eines Tages in seinem Haus im Gespräch mit dem Sohn, der ihm gerade die Fußballnachrichten aus dem Radio wiederholte. Der Theologe wunderte sich, dass sein so zarter und feingliedrig organisierter und auch feinsinniger Nachbar sich für Fußball interessierte. Vogel hat ihm daraufhin erklärt: „Wenn ich am Montag Visite auf der Männerstation mache, dann muss ich wissen, wie VfR Mannheim gespielt hat, sonst kann ich mit meinen Patienten gar nicht umgehen“. Aus der Schule Weizsäckers kommend, war und ist man als Mediziner eben nicht bloß Mediziner. Durch von Weizsäcker wird man hineingestellt in den gesamten Lebenszusammenhang, wegen der Patienten, die sehr verschieden sind. Man muss als Arzt bereit sein, ihreWelt und Sprache zu verstehen.


erster Teil ** nächster Teil
FP-Gesamtübersicht
Startseite