Stiftung LEBENSNERV,
FORUM PSYCHOSOMATIK 1/08

Warum weicht der Arzt aus?

Ich denke, es liegt an der Bildung, dem Interesse, einer gewissen Angst. Diese nicht fragende Medizin fragt eben deshalb nicht, weil sie Angst hat vor Problemen. Wenn Sie das psychologisch sehen, hat die nicht fragende Medizin Angst vor dem Patienten. Vor dem Menschen als Mensch, nicht vor dem Menschen als Fall. Als Fall kann man mit ihm umgehen, da weiß man, wo er hingehört und hat das entsprechende Rezept. Wenn aber die Krankheit mit dem Menschen im Zusammenhang steht, dann muss man als Arzt eben auch dem Menschen begegnen.


Hat der Arzt Angst vor dem Patienten, weil er die Sorge haben muss, seine Autorität einzubüßen, wenn er ein Problem nicht lösen kann?

Ja, das könnte ich mir denken. Aber das hat ein bisschen nachgelassen. Das haben die Achtundsechziger erreicht, dass dieses Potenzgehabe des Arztes, der vorgibt, alles zu wissen, nicht mehr so eklatant ist. Die Halbgötter in Weiß sind kein Thema mehr. Aber trotzdem glaube ich, dass eine gewisse Angst eine Rolle spielt. Alle Krankheiten, die zum Tode führen – im Grunde ist jede Krankheit ein Lehrstück auf dem Weg zum Tode – konfrontieren den Arzt damit, dass auch er sterblich ist.


Reflektiert der Arzt viel zu selten, dass er für seine Kenntnisse, für sein Wissen sein Gegenüber braucht?

Braucht, aber nicht hat. Ich finde das interessant, weil ich gerade mit einem Phänomen zu tun habe. Ein Patient erfährt etwas in seiner Krankheit, was er nicht benennen kann. Dadurch, dass der Arzt es benennt, aber nicht treffend benennt, nicht genau das trifft, was der Patient hatte, unterdrückt er das, was der Patient meint. Gerade im Bereich der Epilepsie gibt es eine Erfahrung des Unbeschreiblichen. Der Arzt fragt: „Ist das ein Schwindel oder ein Schmerz oder eine Schwäche oder haben Sie Angst?“ Dann ist der Patient ratlos, weil er keinWort dafür hat, was er erlebt. Der Arzt bietet ihm verschiedene Worte an, bekommt aber keine befriedigende Antwort und reagiert mit Missmut. Daraufhin verstummt der Patient ganz. Er wird einfach stumm. Und der Arzt erfährt nicht, dass er etwas berührt hat, was überhaupt nicht beschreibbar ist. Das Unbeschreibliche ist aber diagnostisch in diesem Fall dasWesen der Sache. So ist das, wenn man meint, man müsse alles in Begriffe fassen können. Auch Unbeschreibliches kann eine medizinische Bedeutung haben, die nur herauskommt, wenn der Arzt die Äußerung des Patienten unverändert gelten lässt.


Das Innere des Patienten und den Patienten von innen kennen lernen?

Das finde ich eine gute Sache. Daran leuchtet ein, dass es den Patienten von innen und das Innere des Patienten gibt. Das ist ein schönes Ergebnis unseres Gesprächs. Herzlichen Dank.



Das Gespräch mit Professor Janz führte Ulrike Hempel.



1 Anthropologie = Die Wissenschaft vom Menschen, d. Red.
2 Paul Vogel: Grundfragen der klinischen Neurologie, in: Viktor von Weizsäcker,
Arzt im Irrsal der Zeit, eine Freundesgabe zum siebzigsten Geburtstag am
21.4.1956, hg. v. Paul Vogel, Göttingen 1956, S. 185.



Nachdruck aus BERLINER ÄRZTE 6/2007 S. 32 ff
mit freundlicher Genehmigung der Ärztekammer Berlin
und von Ulrike Hempel.





Zur Person

Professor Dr. med. Dieter Janz, geb. 1920 in Speyer/Rhein, Studium der Medizin in Marburg/Lahn, Frankfurt/Main, Prag, Freiburg/Breisgau. 1946 Assistent an der Nervenabteilung der Ludolf-Krehl-Klinik (Medizinische Universitäts-Klinik) bei Paul Vogel (Heidelberg), 1955 Habilitation für Neurologie, Weiterbildung in Psychiatrie bei Kurt Schneider (Heidelberg), in Epileptologie bei F. Braun (Zürich) und in der Neurologie bei McDonald Critchley (London). 1973 Berufung auf den neurologischen Lehrstuhl am Klinikum Charlottenburg der Freien Universität Berlin, seit 1988 emeritiert. Hauptwerk: Die Epilepsien – Spezielle Pathologie und Therapie. Stuttgart: Thieme 1969, 2. Aufl. 1998. Zusammen mit Peter Achilles, Martin Schrenk und Carl Friedrich von Weizsäcker. Herausgeber der Gesammelten Schriften Viktor von Weizsäckers.







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