Stiftung LEBENSNERV,
FORUM PSYCHOSOMATIK 2/07

Die Episode ist aus der 3. Sitzung mit ihm. Wir spielen beide auf Kongas.

Zu Beginn des Ausschnittes ist seine Spielweise geprägt von dichtem, schnell wechselndem Spiel ohne Pausen und unvorhersehbaren Wechseln. Er scheint sehr auf die Koordination seiner Hände konzentriert zu sein. Ich spiele mit und biete zweimal abwechselndes Spiel an und errege damit seine Aufmerksamkeit für mich als Mitspieler. Die Qualität unseres Zusammenspiels ändert sich. Wir kommen in eine gestaltete Interaktion, haben Blickkontakt und unsere pielweisen koordinieren und verschränken sich.

Wie sie hören konnten, gab es unterschiedliche Arten des Zusammenspieles und demzufolge auch unterschiedliche Qualitäten der Beziehung der Spieler in der Musik.

Diese Qualitäten habe ich im Laufe der Auswertung der Musiktherapie genauer beschrieben und untersucht und bin zu dem Ergebnis gekommen, dass das „Kontaktgeschehen“ zwischen den Spielern der entscheidende Motor für alle therapeutischen Veränderungen und Entwicklungen ist. In der Musiktherapie mit Menschen mit MS steht nicht also die gezielte Verbesserung von motorischen oder funktionalen Parametern im Vordergrund, sondern die Beziehungsgestaltung fördert und erweitert ihre Handlungs- und Ausdrucksmöglichkeiten.

Das Ergebnis meiner Auswertungen ist hier grafisch dargestellt. Sie sehen neun kleine Ellipsen, das sind die Kategorien. Mit ihnen kann ich das Kontaktgeschehen nicht nur differenziert beschreiben, sondern auch für eine weitere Therapieplanung nutzen.

Bei der Analyse der Episoden fiel auf, dass die Kategorien nicht zufällig, sondern immer wieder in ähnlichen Abfolgen und Gruppierungen auftraten. Hier mit den Farben blau–grün–rot verdeutlicht.

Die blau unterlegten Kategorien Umgang–Material–Idee und Improvisation oder Form treten z.B. immer zu Beginn auf.

Die rot unterlegten Kategorien treten dagegen eher später im Verlauf einer Episode auf.

Diese Abfolge habe ich in einem von mir so genannten Modell zur Evaluierung des Kontaktgeschehens mit den drei Phasen EXPLORATION, INTERAKTION und ENTWICKLUNG zusammengefasst. Die Episode „Spielerisch werden“, die wir gerade gesehen haben, ist der ersten Phase mit dem Titel EXPLORATION zugeordnet. Hier geht es vor allem darum, Instrumente auszuprobieren, Themen und Ideen des Spielens oder Singens zu finden.

In der darauf folgenden Phase der INTERAKTION geht es um Kohärenz, um Zusammenhang und Regelmäßigkeit, dem Finden eines Tempos und einem damit verbundenen Körpererleben und Körperausdruck. Ich zeige Ihnen dies an einer weiteren Episode aus der Musiktherapie mit „Herrn Mahsberg“. Sie stammt aus der 7. Sitzung mit ihm, und er singt zum aller ersten Mal frei, ohne Vorgaben. Ich begleite ihn am Klavier. Er gibt hier im Wortsinne den Ton an und findet in ein ruhiges Tempo. Er lässt sich ganz auf die Musik, die entsteht, ein, wird immer mutiger und freier und singt schließlich ausdrucksvolle Phrasen, die er mit Gesten unterstreicht.

In einer weiteren Episode aus der 10. Sitzung überträgt „Herr Mahsberg“ die Erfahrungen von Kontinuität und Flexibilität, die er beim Singen machen konnte, auf die Gestaltung der Musik an einem Instrument. Er spielt auf einem Marimbaphon, kommuniziert mit einem initiativen, dynamischen Spiel und seinem ganzen Körper. Ich unterstütze ihn am Klavier. Es entsteht eine spannungsreiche, flirrende Musik.

Sein Titel für diese Improvisation lautet: „Swing in my brain“. Beim Spielen gelangt er hier zu einer Beweglichkeit seines gesamten Körpers, die nicht trainiert wurde, sondern durch die spontane musikalische Gestaltung zum Ausdruck kommt.

In dieser Episode, die der dritten Phase ENTWICKLUNG zugeordnet ist, erweitert „Herr Mahsberg“ sein musikalisches und körperliches Ausdrucksrepertoire.

Er nutzt die Improvisation als Erfahrungs- und Erlebnisraum für Unvorhergesehenes, begibt sich in das Wechselspiel aus Veränderung und Stabilität und findet immer wieder in ein neues Gleichgewicht.

Musik, zumal wenn wir sie selber machen, regt uns Menschen zu Bewegung, zu körperlichem Ausdruck an. Dies gilt auch für Menschen mit körperlichen Einschränkungen. Ein aktives musiktherapeutisches Angebot ermöglicht eine ganz elementare Erfahrung für Menschen mit MS: nämlich ihren Körper wieder als Ausdrucksinstrument wahr zu nehmen und positiv zu erleben.

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