Stiftung LEBENSNERV,
FORUM PSYCHOSOMATIK 2/06


3. Das Empowerment-Konzept in der Mitte des 20. Jahrhunderts

Damit möchte ich einen großen Sprung die Mitte des 20. Jahrhunderts machen, genauer gesagt in die 50er und 60er Jahre der USA, in denen das moderne Empowerment-Konzept seine aktuellen Wurzeln hat. Diese Wurzeln sind

Die erste Wurzel führt zum 1. Dezember 1955 in die Stadt Montgomery im US-Staat Alabama: Die schwarze Näherin Rosa Parks fuhr an diesem Tag von der Arbeit nach Hause und weigerte sich, im Bus ihren Platz für einen Weißen zu räumen. Dieser Akt des zivilen Ungehorsams war der Beginn der Bürgerrechtsbewegung des „black empowerment“, deren bekanntester Vertreter Martin Luther King war. Rosa Parks gilt als die „Mutter der Bürgerrechtsbewegung“.

Die zweite Wurzel führt in das Jahr 1963: In diesem Jahr veröffentlichte Betty Friedan das Buch „The Feminine Mystique“ (Der Weiblichkeitswahn). In diesem Buch prangerte sie die emotionale und intellektuelle Unterdrückung der Frauen an. Der Titel wurde ein Bestseller und regte viele Frauen an, ihre Rolle als „Hausfrau“ in Frage zu stellen. In der Literatur werden die 60er Jahre auch als zweite Welle der amerikanischen Frauenbewegung bezeichnet – nach den Ursprüngen im davor liegenden Jahrhundert.

Die dritte Wurzel finden wir im Jahr 1962: In diesem Jahr erkämpfte sich der Amerikaner Edward Roberts den Zugang zur Universität von Berkely in Kalifornien. Roberts war an allen vier Extremitäten gelähmt und auf ein Atemgerät, eine sogenannte „eiserne Lunge“ angewiesen. So gilt dieses Jahr als Schlüsseljahr der später gegründeten „Independent Living Bewegung“ behinderter Frauen und Männer.

Die theoretische Untermauerung des Empowerment-Konzeptes und die Zusammenfassung unter einem „definitorischen Dach“ (Pankofer) erfolgte im Jahr 1976 durch das Buch der Sozialwissenschaftlerin Barbara B. Solomon: „Black Empowerment: Social Work in oppressed communities“ („Soziale Arbeit in unterdrückten Gemeinschaften“).

Unter diesem Dach wurde das Empowermentkonzept auf weitere Bereiche der Gesellschaft ausgeweitet. Es fand besonders Anwendung bei den Teilen der Gesellschaft, die bevormundet, unterdrückt und diskriminiert wurden und werden). Die Folgen dieser gesellschaftlichen Auseinandersetzungen waren persönliche Emanzipationsprozesse auf der einen Seite und politische Neuerungen (oft in Form von Gesetzen oder Organisationsänderungen) auf der anderen Seite. Empowerment-Prozesse haben also stets eine persönlich-politische Doppel-Wirkung.


4. Aktuelle Anwendungsfelder des Empowerment-Konzeptes

4.1.Die Grundlegung in der Sozialen Arbeit durch Julian Rappaport und ihre Rezeption in Deutschland

Machen wir nun einen kleinen Sprung in das Jahr 1980. Wir schreiben den 3. September und befinden uns auf 88. Jahresversammlung der American Psychological Association in Montreal (Canada). Der amerikanische Psychologe Julian Rappaport hielt dort eine Rede, die – neben der Arbeit von Solomon – als Grundlegung des modernen Empowerment-Ansatzes für die Arbeit in Sozial-Zusammenhängen gilt. Sie wurde leider erst fünf Jahre später für eine deutsche Fachzeitschrift übersetzt.

Der Gemeindepsychologe Rappaport kritisierte in seiner Ansprache den „Defizit“-Ansatz der professionellen HelferInnen in der amerikanischen Public Health Arbeit, die von der „Bedürftigkeit“ der Betroffenen (behinderte Menschen, psychisch kranke Menschen, etc.) ausging und sie „fürsorglich“ in einer bevormundenden Perspektive quasi wie „Kinder“ behandelte und mehr oder weniger gut „versorgt“ hat. Er wandte sich aber gegen ein einfaches, entgegengesetztes Modell der „Anwaltschaft-Advocacy“, bei dem wiederum die professionellen HelferInnen die „ExpertInnen“ sind und zu wissen glauben, dass nur die „vollen Bürgerrechte“ das Beste für ihr Klientel seien. Die Bedürftigkeiten der Betroffenen spielten in diesem Konzept keinerlei Rolle mehr. Jedoch „Rechte ohne Ressourcen zu besitzen, ist ein grausamer Scherz“ sagt Rappaport.

Er plädiert demzufolge für ein Modell des „Empowerment“, das davon ausgeht, dass viele Fähigkeiten bei den Menschen bereits vorhanden sind und dass die angeblichen Defizite Ergebnis sozialer Strukturen und mangelnder Ressourcen sind. „Offen gesagt“, so Rappaport, „meine ich, dass es sich um ‚empowerment ‘ bei all den Programmen und politischen Maßnahmen handelt, die es den Leuten möglich machen, die Ressourcen, die ihr Leben betreffen, zu erhalten und zu kontrollieren.“

In einem späteren Buch (1984) schreibt Rappaport (Original ton): „Empowerment is viewed as a process: the mechanism by which people, organizations and communities gain mastery over their lives“. (Zu Deutsch: „Empowerment ist als ein Prozess zu verstehen: es sind die Mechanismen, durch die Menschen, Organisationen und Gemeinschaften Kontrolle über ihr eigenes Leben erhalten“).

Das ist eine sehr allgemeine Definition und es bleibt festzuhalten, dass Empowerment also nicht etwa als eine genau abgegrenzte Methode zu verstehen ist, sondern eher als eine Haltung, als eine Philosophie, als eine Strategie. In Deutschland wurde das „Empowerment-Konzept“ Anfang der 90er Jahre von Herriger und Stark aufgegriffen. Seitdem wird es im Bereich der Theorie und Praxis sozialer Arbeit verstärkt diskutiert. Je nach AutorIn werden verschiedene Empowerment-Ebenen gesehen. Norbert Herriger etwa unterscheidet vier Ebenen des „Empowerments“:

  1. die Individualebene (evtl. auch unterstützt durch Beratung)
  2. die Gruppenebene (etwa in Selbsthilfegruppen)
  3. die Organisationsebene (Beteiligung von BürgerInnen bei sozialen Dienstleistungen)
  4. die Gemeindeebene (förderliches Klima für Selbstorganisation)


Bei Wolfgang Stark werden drei Ebenen gesehen:

  1. psychologisches Empowerment auf der individuellen Ebene
  2. Empowerment auf der Ebene von Gruppen und Organisationen
  3. Empowerment auf der strukturellen Ebene

In den Zusammenhängen der Stiftung LEBENSNERV wird es vor allem, so denke ich, um die Ebene des „psychologischen Empowerment“ gehen. In unserer Stiftungszeitschrift FORUM PSYCHOSOMATIK haben wir diese Ebene schon einmal präzisiert und in der Ausgabe 1/2004 den Ansatz des Psychotherapeuten Edmond Richter vorgestellt. Er sieht Empowerment als Ausdruck einer neuen Lebensphilosophie, einer neuen Lebenskultur, die auf einem grundsätzlichen Perspektivenwechsel beruht.

Danach basiert Empowerment auf einer neuen Lebenshaltung, die besagt, dass wir viel stärker, größer und fähiger sind, als wir zu denken wagen. Sie besagt außerdem, dass wir die Kraft haben, uns zu ändern, um mehr Freiheit, Verantwortung und Lebensfreude zu erfahren. Richter vertritt die Auffassung, dass wir tagtäglich mehr oder weniger unbewusst Entscheidungen treffen. Nach dem Empowerment- Prinzip sollten wir diese Entscheidungen lieber bewusst und lebensbejahend treffen als unbewusst und leidend. Dabei geht es laut Richter nicht darum, Probleme zu verleugnen, sondern sie als Herausforderung zu betrachten mit dem Wissen, dass sie lösbar sind.

So gesehen ist Empowerment eine neue Haltung, eine neue Art, in der Welt zu sein. Für jeden persönlich bedeutet das nach Richters Ansicht, mehr Selbstbestimmung und Freiheit zu gewinnen, aber auch Verantwortung zu übernehmen und selbst schöpferisch zu werden, statt Opfer zu bleiben. Wem diese Haltung vermittelt werden könne, der geht, so Richter, mit neuem Mut an seine Probleme heran und meistert sein Leben mit gesundem Selbstbewusstsein.

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