Stiftung LEBENSNERV,
FORUM PSYCHOSOMATIK 1/06

STIFTUNG LEBENSNERV



Lebensbegleitende Beratung von MS-Betroffenen


Curriculum für eine Weiterbildung zu Peer-CounselorInnen





Stand: 02. April 2006




Lebensbegleitende Beratung von MS-Betroffenen


Curriculum für eine Weiterbildung zu Peer-CounselorInnen*




1. Grundsätzliches

1.1 Die Notwendigkeit lebensbegleitender Beratung

Die Diagnosemitteilung und der Verlauf einer multiplen Sklerose (MS) hinterlassen tiefe Spuren in der Lebensgeschichte der Betroffenen. Häufig führen die Symptome dieser bisher unheilbaren chronischen Erkrankung zum Rückzug aus dem gesellschaftlichen Leben, zu Selbstwertproblemen und Resignation, da die gesamte Identität der Betroffenen erschüttert wird. Obwohl niemand diese Tatsache bezweifelt, werden die Betroffenen mit ihren Angehörigen und FreundInnen doch weitgehend alleine gelassen. Ein Angebot an psychischer Unterstützung, das diesen Tendenzen erfolgreich entgegenwirken könnte, wird bisher kaum vorgehalten. Gerade bei MS-Betroffenen, die sich bei einem schubförmigen oder chronisch progredienten, niemals aber vorhersagbaren Krankheitsverlauf mit sich ständig verändernden Gegebenheiten auseinandersetzen müssen, ist eine lebensbegleitende Beratung deshalb unverzichtbar.

1.2 Der „Peer- Counseling-Ansatz“

Der klassische Beratungsansatz hat jedoch seine Grenzen, da er von vielen MS-Betroffenen als bevormundend, von oben herab oder zu medizinisch orientiert erlebt wird. Abhilfe kann in diesem Falle die ergänzende Unterstützungsform des „Peer-Counseling“ (Betroffene beraten Betroffene) bringen. Der Begriff "Peer-Counseling" stammt aus der weltweiten „Independent Living – Bewegung“ behinderter Menschen, die für Selbstbestimmung, Selbsthilfe und Eigenverantwortung eintreten. Hier sind die BeraterInnen „peers", „Gleiche", also Menschen, die Ähnliches erlebt haben wie ihre GesprächspartnerInnen.

Bei der gemeinsamen Suche nach einem besseren Weg mit der Krankheit bringen die betroffenen BeraterInnen ihre eigenen Erfahrungen mit ein: ihre Mühen und Ängste, aber auch ihr Selbstvertrauen und ihren Mut. Das Ziel des "Peer-Counseling" ist, behinderte Ratsuchende in ihrem Selbstwertgefühl zu stärken und sie in ihrem Selbsthilfepotenzial zu unterstützen, eigene Problemlösungen zu entwickeln. Dadurch, dass der Berater oder die Beraterin zum einen selber behindert oder chronisch krank ist, zum anderen zusätzlich die fachliche Qualifikation als BeraterIn mitbringt, kann sich eine größere Vertrauensbasis entwickeln. Im Beispiel des selbstbestimmten Lebens mit Behinderung oder chronischer Krankheit eines/r selbst betroffenen BeraterIn können Ratsuchende eine Vorbildrolle für sich selbst entdecken.

1.3 Ergänzung, nicht Konkurrenz

Dieses Beratungsangebot nach dem „Peer-Prinzip“ versteht sich nicht als Konkurrenz, sondern als Ergänzung zu den bislang bestehenden Beratungsangeboten von Einrichtungen und Organisationen. Damit erhalten MS-betroffene Menschen mehr Wahlmöglichkeiten, um sich die Unterstützung, die sie benötigen, zu organisieren. Langfristig wird die Schaffung eines bundesweiten Beratungsnetzes für MS-Betroffene auf Basis des Peer-Counseling-Prinzips angestrebt.

1.4 Ganzheitliche Sicht der Erkrankung an MS

Die Erkrankung an MS ist ganzheitlich zu betrachten: Alle Aspekte, körperliche, psychische und umfeldbedingte sind integriert zu beachten. Es ist noch nicht genau geklärt, in welcher Weise diese Aspekte bei MS zusammenwirken, Tatsache ist, wie auch die Ergebnisse der Psychoneuroimmunologie (PNI) belegen, dass jede Erkrankung immer den ganzen Organismus betrifft und nicht einzelne Aspekte gelöst voneinander betrachtet werden können. Diese Erkenntnis gilt auch für die Erkrankung an MS.

Eine ganzheitliche Sichtweise bei MS bedeutet außerdem, mehr Fragen zu haben als Antworten. Zu einer ganzheitlichen Betrachtung gehört auch die Berücksichtigung der Tatsache, dass rund zwei Drittel aller MS-erkrankten Personen Frauen sind, eine geschlechtsspezifische Sichtweise ist deshalb zwingend geboten

Durchgehendes Merkmal einer ganzheitlichen Sichtweise ist die salutogenetische Perspektive, die auf Aaron Antonovsky zurückgeht. Es geht dabei immer darum, nicht defizitorientiert, sondern ressourcenorientiert zu arbeiten, um die vorhandenen Kompetenzen der Individuen zu steigern.






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