Stiftung LEBENSNERV,
FORUM PSYCHOSOMATIK 1/05

Dr. Regine Strittmatter

Die salutogenetische Perspektive
und Multiple Sklerose *


Man kann Multiple Sklerose als die Krankheit der Fragezeichen betrachten: Ursachen - nicht geklärt. Auslösefaktoren - nicht geklärt. Heilung - bisher nicht möglich, vielleicht irgendwann. Prognose - nicht möglich. Symptome - überall und nirgends möglich. Man kann Multiple Sklerose auch als eine Erkrankung mit den vielen Belastungen sehen: die Symptome, die schwierigen Gefühle, den Kontrollverlust, den Alltagsstress, Verlusterfahrungen, Traumatisierung, Stigmatisierung. All das sind Blickwinkel auf MS und wenn ich Betroffene frage, was bedeutet MS in Ihrem Leben, dann wird auf der einen Seite Veränderung kommuniziert, auf der anderen Seite aber auch, dass sich nicht so viel verändert hat.

Veränderungen betreffen aber nicht immer nur den Einzelnen, sie betreffen den Einzelnen auch in seinem engeren und weiteren Umfeld. Und immer, wenn ich mich mit der Auswirkung von chronischer Krankheit befasse, das hat jetzt auch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) festgestellt, dann geht es nicht nur um den Körper, wie es viele Jahrzehnte der Fall war, es geht immer auch um die Umwelt und die Reaktion der Umwelt auf die Person mit der chronischen Krankheit. Und wenn wir diese Perspektive haben: auf der einen Seite die MS, auf der anderen Seite, die Person, die erkrankt ist, mit Körper, Geist, Seele, dann habe ich auch immer zwei Möglichkeiten, MS zu sehen: Ich kann auf der einen Seite sehen: Verlust, Defizit, Krankheit, degenerative Prozesse, Pathogenese oder ich kann auf der anderen Seite immer sehen, was ist möglich? Was kann die Person, was leistet sie mit ihrer Behinderung, welche Art von Ausstrahlung hat sie, welche Kompetenzen hat sie, welche Persönlichkeit ist sie? Und ich kann wählen, welche Perspektive ich sehen möchte.

Was ist nun die salutogenetische Perspektive? Ich zeige Ihnen dazu eine kleine Karikatur: Auf der einen Seite sehen Sie die Ressourcen, die nach oben ziehen, auf der anderen Seite die Symptome, die nach unten ziehen. Das ist natürlich eine sehr starke Vereinfachung des salutogenetischen Blickes. Der Begriff der Salutogenese umfasst sehr vieles: Er steht auf der einen Seite für einen Perspektivenwechsel vom bisherigen Krankheitsverständnis vom biomedizinischen Modell, der Begriff steht für spezifische Forschungsfragen, der Begriff steht für ein Modell von Antonovsky (der amerikanisch-israelische Medizinsoziologe Aaron Antonovsky hat dieses Modell Ende der 70er Jahre entwickelt, vgl. FORUM PSYCHOSOMATIK, Ausgabe 2/2004, S. 19, d. Red.), er steht als Sammelbegriff für verschiedenste Konzepte und Theorien, er steht für eine Handlungsorientierung in Therapie und Prävention oder er steht auch als Synonym für unsere Wellness-orientierte derzeitige Welt, wird also auch sehr häufig als Modebegriff verwendet.

Wenn wir einmal versuchen, die Salutogenese nach Antonovsky anzuschauen, dann haben wir auf der einen Seite die pathogenetische Sicht, die ausschließlich auf die Krankheit orientiert ist: der Patient steht im Mittelpunkt mit seinem Symptom, mit seinem Leiden. Es geht darum, was sind die Ursachen der Krankheit, was sind die Risikofaktoren für das Auftreten der Krankheit? Dahinter steht natürlich der Wunsch, Krankheit zu heilen.

Bei der Salutogenese geht es um die Gesundheit. Antonovsky hat die zentrale Frage gestellt: warum bleiben Menschen gesund? Im salutogenetischen Blickwinkel geht es um eine Person, die MS hat und nicht um jemanden, der krank ist – MS ist, sozusagen. Es ist ein gewaltiger Unterschied, ob jemand MS hat oder MS ist – gegen diese Gleichsetzung wehrt sich der salutogenetische Ansatz. Der Ansatz geht immer von einem aktiven Subjekt aus, von Menschen, die mit ihrer Krankheit umgehen und die trotz ihrer Symptome in der Lage sind, ihr Leben zu gestalten, zu handeln. Es geht auch um Anpassung an eine neue Situation, die von Krankheit gekennzeichnet sein kann.

Die Antwort auf die Frage, ob jemand MS bekommt oder nicht, erhalten Sie aber nicht durch den salutogenetischen Ansatz und es gibt auch keine abschließende Antwort auf salutogenetische Bewältigungsprozesse. Da sind noch viele Forschungen notwendig. Es gibt auch kaum MS-spezifische Studien. Aber dieses Modell und dieses Denken hilft, eigene Bewältigungsstrategien besser zu verstehen. Vor allem aber hilft das Modell von Antonovsky, vom reinen „Symptomträger“ wegzukommen und sich zur „Person“ zu emanzipieren. Das Modell gibt Anstöße für Therapie und Beratungskonzepte. Im Mittelpunkt kann das stehen, was geht und nicht nur, was nicht geht.

Es ist aber ganz wichtig, dass wir das salutogenetische Denken nicht missbrauchen, etwa in dem Sinne: Wenn du nur positiv denkst, dann ist alles gut. Salutogenese bedeutet nicht, das Leiden zu vernachlässigen oder es nicht mehr ernst zu nehmen. Antonovsky hat nicht die eine Perspektive gegen die andere gestellt, sondern er hat gesagt, wir brauchen beide. Er hat nur die Seite eingefordert, die es bislang nicht gab. Der ganzheitliche Blick auf MS, weder das eine noch das andere zu vergessen, das ist die Kunst.




Kontakt
Schweizerische Multiple Sklerose Gesellschaft (SMSG)
Dr. Regine Strittmatter
Josefstrasse 129
CH - 8031 Zürich
Tel.: 0041-(0)43 - 444 43 43
Email:
RStrittmatter@multiplesklerose.ch


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