Stiftung LEBENSNERV, FORUM PSYCHOSOMATIK 1/05 |
Im Verlauf der Betrachtung des empirischen Materials stellte sich heraus, dass - in weitaus höherem Maße als in der bisherigen Krankheitsbewältigungsforschung zu MS im Rahmen des Belastungs-Bewältigungs-Paradigmas angenommen - dem lebensgeschichtlichen Hintergrund bei der Aneignung chronischer Erkrankung zentrale Bedeutung zukommt. Die im Verlauf der empirischen Studie gewonnenen Erkenntnisse über Formen biographischer Krankheitsaneignung weisen auf die herausragende Bedeutung biographischer Deutungslogiken, Erfahrungsstrukturen und Handlungsmuster hin. Es fanden sich im Material hinreichend Belege, die verdeutlichen, dass die Form der Krankheitsverarbeitung und Lebensgestaltung mit MS durch lebensgeschichtliche Wirklichkeitskonstruktionen entscheidend beeinflusst wird (Griesehop 2003).
Der praktische Nutzen der Typologie besteht vor allem darin, dass in den vier Grundformen biographischer Krankheitsaneignung und Lebensgestaltung im Kontext MS etwas Grundsätzliches zum Ausdruck kommt: Es handelt sich prinzipiell um vier Möglichkeiten, um Grundhaltungen, Handlungsdispositionen, die es erlauben, das "Leben mit MS" zu gestalten. Es ist jedoch nicht auszuschließen, dass weitere “Typen” existieren, die auf Basis jener der Untersuchung zugrunde liegenden Lebensgeschichten nicht rekonstruiert werden konnten. Ferner geht es auch nicht darum, Betroffene einem der vier lebensgeschichtlich verankerten Muster der Aneignung und Lebensgestaltung eindeutig zuzuordnen. Ergebnis der Untersuchung sind derzeit, sprich: zum Zeitpunkt der Erhebung, dominante Dispositionen der Betroffenen, Haltungen, die sich im Laufe der Zeit verändern können, ganz so, wie sich der Blick auf das eigene Leben, die Lebenseinstellung ändern kann. Die Tatsache, dass der Blick auf das eigene Leben und damit verbundene Handlungsdispositionen keine statischen Größen darstellen, dass Dispositionen niemals in "Reinform" vorliegen, erfordert in Theorie und Praxis einen Ansatz, der sich durch Lebens- und (subjektive) Wirklichkeitsnähe auszeichnet.
Im Rahmen der Untersuchung konnten Haltungs- und Handlungstypen rekonstruiert werden, die je spezifische Muster biographischer Krankheitsaneignung und Lebensgestaltung mit MS spiegeln. Auf Basis der Typenprofile lassen sich Konsequenzen für das professionelle praktische Handeln ableiten. Werden die Befunde dahingehend interpretiert, dass MS-PatientInnen über unterschiedliche Lebenserfahrungen und daraus resultierende individuelle Handlungsorientierungen verfügen, die die Art und Weise der Lebensführung mit MS maßgeblich bestimmen, so ist eine biographische Patienten/Klientenorientierung zu fordern, die diesem Umstand Rechnung trägt: Professionelle Begleitung/Beratung/Unterstützung von MS-Betroffenen ist in ihrem "Gelingen" wesentlich vom Wissen und Verstehen biographischer Verarbeitungsmodi/Konstruktionen der Betroffenen abhängig. Folglich ist eine narrative Praxis erforderlich, die Professionelle bewegt, sich in eine zuhörende Haltung dem Patienten/Klienten gegenüber zu begeben. Erforderlich sind professionelle Handlungskonzepte, in denen die Wechselbeziehungen zwischen Biographie und Krankheitsaneignung berücksichtigt wird. Das Konzept der biographischen Krankheitsverarbeitung und Lebensgestaltung ermöglicht es, professionelle Hilfe an den Bedarfen der Betroffenen auszurichten. Das Wissen um subjektive Wahrnehmungs-, Verarbeitungs- und Deutungsmuster und darauf basierende individuelle Handlungsorientierungen der Betroffenen sind für spezifische Formen der Lebensberatung ausschlaggebend.
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