Stiftung LEBENSNERV,
FORUM PSYCHOSOMATIK 1/05

Prof. Dr. Hedwig Rosa Griesehop

Biographie und
Krankheitsbewältigung

1. Einleitung

Bevor die Studie vorgestellt wird, zunächst einige kurze allgemeine Anmerkungen zum Biographieverständnis. Mit "Biographie" ist hier grundsätzlich die erzählte Lebensgeschichte gemeint.1 Sie "umfasst die Geschichten, die wir erzählen und in denen wir uns wiedererkennen mit all dem Wissen und der Erfahrung, die wir in ihnen sammeln konnten. (...) Sie integriert und bewahrt und gibt Aufschluss auch über existentielle Abhängigkeiten, in denen ein Leben verfangen ist. Sie vermittelt dem Menschen ein Gespür davon, was nicht möglich war und was nicht mehr möglich ist - ungelebtes Leben ist konstitutiver Teil von Biographie." (Mader 1995, 27)

Erzählen stellt eine Alltagshandlung dar, mit der Menschen ihre Erlebnisse austauschen, erklären, rechtfertigen und begründen. Im Erzählten zeigt sich, wie Menschen ihre Welt auffassen, wie sie selbst aufgefasst werden wollen. "Narrativität wird als fundamentales Ordnungsprinzip menschlichen Erlebens und Handelns begriffen" (Lucius-Hoene 1998, 109), das unter anderem der Selbstvergewisserung, -darstellung und -präsentation dient. Wie in den Ausführungen bereits anklang, ist Erzählen eine wichtige Voraussetzung, um Erlebnisse (zum Beispiel eine chronische Erkrankung) zu verarbeiten und Ereignisse/Erlebnisse in die Biographie, quasi als Teil des gelebten Lebens, aufzunehmen. Der deutende Umgang mit der Krankheit und dem eigenen Leben versetzt die Betroffenen in die Lage, die Krankheit und die damit einhergehenden Veränderungen in ihr Leben zu integrieren und dem Dasein Sinn zu geben.

Das Bedürfnis nach autobiographischer Thematisierung wird vor allem durch "Ereignisse und Handlungen, die nach Einordnung, Verarbeitung, Normalisierung rufen" (Kohli 1988, 40), provoziert. Krankheit stellt ein solches Ereignis dar. Eine chronische Erkrankung wie MS ist ein unwiderrufliches Lebensereignis mit Konsequenzen für das weitere Leben. Mit Hilfe des Konzeptes Biographie kann die chronische Erkrankung als existentiell "Begegnendes" im Leben interpretiert werden, können Antworten, Deutungsmuster auf dieses spezifische Ereignis formuliert und/oder entwickelt werden. In Anlehnung an die Copingforschung, die sich auf die Krankheitsverarbeitung konzentriert, geht es in dieser Studie um die biographische Deutung, um die Integration der Krankheit und deren Tragweite im Hinblick auf Lebensgeschichtliches.

Wie in den Anmerkungen angesprochen, ist Erzählen eine wichtige Voraussetzung, um chronische Erkrankung zu verarbeiten und Krankheit in die Biographie als Teil des Lebens aufzunehmen. Um zu erfahren und zu verstehen, wie Betroffene sich Multiple Sklerose aneignen und diese Krankheit in ihr Leben integrieren, ist es ratsam, die Lebensgeschichte mittels biographisch-narrativer Gesprächsführung in den Blick zu nehmen.


2. Forschungsfragen
und -anlage

Wie verarbeiten Betroffene ihre chronische Erkrankung, wie eignen sie sich Multiple Sklerose (MS) an, wie gestalten sie ihr Leben? Welche Rolle kommt dem lebensgeschichtlichen Hintergrund bei der Lebensgestaltung mit MS zu? Im Mittelpunkt der Studie steht das Interesse, chronische Erkrankung unter dem Blickwinkel zur Verfügung stehender biographischer Handlungsspielräume zu betrachten; der Prozess der Krankheitsverarbeitung wird anhand biographischer Perspektiven rekonstruiert. Besondere Berücksichtigung finden im Rahmen der empirischen Untersuchung Fragen nach der biographischen Bedeutung des Krankheitsereignisses, den Prozessen biographischer Verarbeitung und subjektiven Realitätskonstruktionen. Die zentralen Forschungsfragen der empirischen Studie lauten:


Hinsichtlich der Konzeptionalisierung der Untersuchung ließ ich mich von der Tatsache leiten, dass es bezüglich der Fragen, wie die Aufgabe "Leben mit MS" biographisch realisiert wird, welche (biographischen) Handlungsspielräume den Betroffenen zur Verfügung stehen, kaum gesichertes Wissen gibt. Biographische Handlungsspielräume lassen sich als Spielräume im Erleben und Entwerfen von Lebensvorstellungen und Alternativen, von Freiheit und Gebundenheit im Kontext von Lebensereignissen interpretieren, zugleich lassen sich anhand der Rekonstruktion von Handlungsspielräumen Aussagen über die prinzipielle Fähigkeit, über das Potential und die Struktur biographischer Sinnressourcen treffen. Folglich stehen Prozesse biographischer Krankheitsverarbeitung und subjektive Realitätskonstruktionen MS-Betroffener im Mittelpunkt der Analysen. Die Grundlage der Forschungsarbeit bilden siebzehn biographisch-narrative Interviews, die mit einer Gruppe von an MS erkrankten Frauen und Männern im Alter zwischen 18 und 43 Jahren geführt wurden




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