Stiftung LEBENSNERV,
FORUM PSYCHOSOMATIK 2/03


Plädoyer für einen „Neuen Arzt“

Arzt-Patient-Beziehung im Wandel

von Linus S. Geisler*



Auf Abstand zum Kranken

In seinem Buch „Die verlorene Kunst des Heilens“ schreibt der weltberühmte Kardiologe Bernard Lown, die für ihn denkwürdigste Beschreibung einer guten Arzt-Patient-Beziehung stamme von einer einfachen sibirischen Ärztin. Sie habe ihm gesagt: „Jedes Mal, wenn ein Arzt einen Patienten sieht, sollte sich der Patient anschließend besser fühlen.“ Ich möchte ergänzen: idealerweise sollten sich beide besser fühlen.

Mit der Zufriedenheit der Ärzte scheint es nicht weit her zu sein. Mehr als 90 Prozent der niedergelassenen Vertragsärzte fühlen sich durch die Gesetzgebung im Gesundheitswesen und durch die Einflussnahme der Politik bzw. der Kassen auf die Patientenversorgung belastet. 59 Prozent sind „ausgelaugt“, ebenso viele fühlen sich am Tagesende „völlig erledigt“. Eine Untersuchung an jungen Klinikärzten in Berlin ergab, dass circa ein Drittel, zermürbt von der „Arbeit in der Endlosschleife“, den Beruf nicht noch einmal wählen würden. Dokumentiert ist der Fall eines niedergelassenen Arztes, der vollständig frustriert, die Alternative als Gefängnisarzt vorzog.

Weltweites Phänomen:
unglückliche Ärzte

Eine aktuelle Untersuchung an Allgemeinärzten in England ergab ebenfalls eine deutliche Abnahme der beruflichen Zufriedenheit (job satisfaction). Diese sank von durchschnittlich 4,64 Punkten 1998 auf 3,96 Punkte 2001, gemessen an einer sieben Punkte-Skala. Die Zahl der Ärzte, die sich in den nächsten fünf Jahren aus der direkten Patientenversorgung zurückziehen wollen, stieg im gleichen Zeitraum von 14% auf 22%. Ein Editorial des British Medical Journals vom 6. April 2002 widmet sich allein dem weltweiten Phänomen der unglücklichen Ärzte („unhappy doctors“).

Arbeitslast und unzureichende Bezahlung scheinen allerdings das Problem nicht vollständig zu erklären. Als Schlüsselfaktor wertet die Analyse einen Wandel in dem Verhältnis zwischen Beruf, Patienten und der Gesellschaft, der dafür verantwortlich ist, dass der Arztberuf heute nicht mehr dem entspricht, was die Ärzte sich ursprünglich erwartet hatten.

Eine Art vorauseilende Distanzierung zum Patienten zeichnet sich bereits im Verhalten der zukünftigen Ärzte ab. Jährlich brechen 2400 junge Menschen das Medizinstudium ab. Viele wechseln das Studienfach. Jeder zweite Medizinstudent wird später nicht als Arzt arbeiten. Beliebte nichtkurative Ausweichberufe sind Pharmaindustrie, Krankenhausmanagement, Unternehmensberatungen oder Forschung. Während der angehende Medizinstudent vor einer Generation nichts sehnlicher erwartete als den ersten Kontakt mit einem Kranken, geht heute die Hälfte der neuen Ärzte auf Abstand zum Patienten.

Freilich hat sich, was den künftigen Arzt erwartet, ebenfalls grundlegend geändert. Auf hohes soziales Prestige und angemessenes Auskommen kann er in Zukunft nicht mehr rechnen. Ein kaum entrinnbares System von Abhängigkeiten, Stressoren und Pressionen tut sich auf. In den Krankenhäusern wird mit der Etablierung der sogenannten Fallpauschalen der Vorrang der …konomie mit Nachdruck durchgesetzt.

Arbeitszeiten von 70 Stunden pro Woche, inadäquate Bezahlung, überholte Hierarchien und eine kaum zu bewältigende Arbeitsdichte sind klinischer Alltag. Die Karrierechancen sind mäßig, besonders für Ärztinnen. Sie besetzen nur jede zehnte leitende Krankenhausposition. Unflexible Arbeitszeiten und fehlende Kinderhortplätze verstärken den Doppel- Stress durch Beruf und Haushalt. Bei solchen Zukunftsperspektiven erscheint manchen jungen Ärzten die Abwanderung ins Ausland, vor allem nach Schweden, England oder Australien, als rettender Exodus in ein vermeintlich gelobtes Land. Einschränkung der Autonomie, massive externe Kontrollen, Zunahme berufsfremder Tätigkeiten und sinkende Einnahmen sind in weiten Teilen der westlichen Welt - so der Internationale Kongress für Ärztegesundheit im Oktober 2002 in Vancouver - das hervorstechende Charakteristikum ärztlicher Arbeitsbedingungen. Sie finden ihren Niederschlag unter anderem in einem erhöhten Suizidrisiko (das wiederum Ärztinnen besonders betrifft), in Depressionen und Abhängigkeitsproblemen (Alkohol, Sedativa, Opiate). Das Privatleben leidet; 69 Prozent der niedergelassenen Ärzte bezeichnen es als unbefriedigend und nur 21 Prozent haben genügend Zeit für eigene Interessen. Trennungs- und Scheidungswahrscheinlichkeit liegen bei Ärzten über dem Durchschnitt.




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