Stiftung LEBENSNERV,
FORUM PSYCHOSOMATIK 1/03


Fallbeispiel 1

Frau C1 ist 35 Jahre alt, verheiratet, hat keine Kinder. Sie ist gelernte Maler- und Lackiererin, zur Zeit nicht berufstätig. Erste Symptome der MS traten 1994 auf, die Diagnose MS wurde1995 gestellt. Frau C1 ist Mitglied einer Selbsthilfegruppe.

In der ersten Stunde, in der die TeilnehmerInnen unter anderem über ihre Erwartungen an die Gruppe sprachen, nannte Frau C1 den Wunsch, über die medikamentöse Behandlung zu sprechen. Sie kenne keinen, der ebenfalls Interferon nehme. Als Themenwünsche für die Gruppe nannte sie Selbstwertzweifel und Stressbewältigung.

In der zweiten Stunde, in der es um körperliche Aspekte der MS ging, bekam sie viele Informationen, auch über Interferon, in der dritten Stunde zusätzlich ein Videoinformationsband über Interferon. Von der zweiten Stunde an wurde die Progressive Muskelentspannung als Methode zur Stressbewältigung eingeübt, die Frau C1 von Anfang an häufig einsetzte. Zu eigenen Krankheitsmodellen befragt, antwortete Frau C1 "Durch die Erkrankung habe ich in einer Kur meinen Mann kennengelernt - dafür war sie gut." In der vierten Stunde diskutierten die TeilnehmerInnen zu dem Thema "Erfahrungen mit dem medizinischen System". Frau C1 fand, am wichtigsten sei ihr die Arzt-Patienten-Beziehung. Sie wünsche sich ein partnerschaftliches Verhältnis zu den Ärzten, und sie wolle ernst genommen und akzeptiert werden. Uneingeschränkte Fachkompetenz sei für sie eher zweitrangig, es gehe für sie viel mehr darum, von dem Arzt für ihre eigenen Entscheidungen beraten zu werden.

In der fünften und sechsten Stunde ging es um das Thema Stress und Stressbewältigung. Für Frau C1 tauchte Stress vor allem dann auf, wenn zu viele und zu starke Eindrücke auf einmal auf sie einströmten, zum Beispiel in Kaufhäusern. In einer Kleingruppe mit einer anderen Teilnehmerin tauschte sie sich über stressverschärfende Gedanken aus und über Veränderungsmöglichkeiten.

In der siebten Stunde hieß das Thema: "Wertschätzende Konnotation (zusätzliche Vorstellung, d. Red.) - was sind die guten Seiten an einer schlechten Eigenschaft von mir selber?" Frau C1 nannte für sich "Klatschsüchtigkeit" und "Tratscherei" und konnte diesen vermeintlich "schlechten Eigenschaften" die guten Seiten "hohe kommunikative Fähigkeit" und "Emotionsabfuhr" abgewinnen.

In der achten Stunde stellte Frau C1 nach einer theoretischen Einführung zur Stammbaumarbeit durch eine Gruppenleiterin ihren eigenen Stammbaum vor, der dann ausführlich mit ihr besprochen wurde. Hauptthema war die besondere Beziehung zu ihrem Vater und die Bedeutung für ihr jetziges Leben.

Nachdem in der folgenden Stunde die Stammbäume zweier anderer Patientinnen besprochen wurden, an denen sich Frau C1 sehr rege beteiligte, sagte sie in der zehnten Stunde, ihr gehe es so richtig gut. Zum ersten Mal habe sie sich auf einer Party eine Interferoninjektion gegeben, nachdem sie früher eher nicht hingegangen sei. Manchmal habe sie die Spritzen früher auch als Ausrede benutzt, wenn sie eigentlich keine Lust hatte, eine Party zu besuchen. Sie habe von den Themen "Umgang mit Stress" und "Wertschätzung" sehr profitiert, auch merke sie, dass der Austausch mit Leuten, die an der gleichen Krankheit leiden und das gleiche Medikament bekommen, gut für sie sei. Sich über die Nebenwirkungen zu unterhalten, sei sonst nur mit dem Arzt möglich. Es sei so schön, dass die anderen wüssten, was man meint. Es sei eine Vertrautheit in der Gruppe entstanden. Das Spritzen sei zur Normalität geworden. In der elften Stunde brachte Frau C1 das Thema ein: "Wie reagiere ich, wenn ich auf meinen unsicheren Gang angesprochen werde?" Bis jetzt antworte sie dann oft:"Ich habe eine Sportverletzung". Auf die Antwort "MS" habe sie Verlegenheit geerntet, habe die Leute dann trösten müssen. Ein anderes Thema dieser Stunde war "Eigene Grenzen" und "Frühwarnzeichen für Stress und Überforderung" - wie merken die TeilnehmerInnen, dass sie ihre Grenze erreichen oder überschreiten? Gibt es Frühwarnzeichen? Frau C1 fand es "superschwierig, die eigene Grenze zu erkennen", und Frühwarnzeichen könne sie so auf Anhieb gar nicht nennen - sie werde jetzt aber einmal darauf achten. In dieser Stunde verabschiedete sich Frau C1 von den anderen TeilnehmerInnen, weil sie an der letzten Stunde wegen eines Urlaubes mit ihrem Mann nicht würde teilnehmen können. Sie hatte das Gefühl, sehr von der Gruppe profitiert zu haben und fand es sehr schade, dass die Gruppe in dieser Form nicht weitergehen würde - an den monatlichen Treffen der ehemaligen TeilnehmerInnen nimmt Frau C1 bis heute regelmäßig teil.



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