Stiftung LEBENSNERV, FORUM PSYCHOSOMATIK 1/03 |
Als ich vor gut vier Jahren aufgrund einer Sehnerventzündung die Diagnose MS (Multiple Sklerose) bekam, wusste ich nicht wirklich etwas damit anzufangen. Ein knappes Jahr lang versuchte ich es zu ignorieren, versuchte zu leben, als wäre nichts geschehen - jetzt wollte ich erst recht leben!
Doch es war etwas geschehen, und schließlich konnte ich nicht mehr. Mit diversen Sensibilitätsstörungen, Missempfindungen, Schwächegefühl im rechten Arm und Bein und maßloser Erschöpfung wurde ich krankgeschrieben und schließlich berentet. Dabei fühlte ich mich völlig überreizt, angespannt, schlaflos, unkonzentriert und konnte der Gedankenflut in meinem Kopf kaum noch Herr werden. Eine schwere reaktive Depression ließ mich zudem vor Mittag nicht das Bett verlassen.
In meiner Kraftlosigkeit gefangen, wurde mir klar, dass ich nun zwei Möglichkeiten hatte: Nr.1 wäre gewesen, mich in schulmedizinische Behandlung zu begeben. Doch ich dachte, das könnte ich ja immer noch tun, wenn mich Idee Nr.2 nicht weiterbringt.
Nr.2 war die Erkenntnis, dass ich jetzt, wo es sowieso nicht mehr möglich war, so weiterzufunktionieren, wie ich es vorher recht freudlos getan hatte, eine gewisse Art von Narrenfreiheit gewonnen hatte: Ich durfte jetzt alles tun, was mir gut tat.
Ich wollte nicht mehr Medikamente als unbedingt nötig nehmen, denn trotz massiver Kraftlosigkeit hatte ich sehr viel Hoffnung. Für mich ist jede Krankheit ein körperlich gewordener Hilfeschrei der Seele. Ich fühlte sehr deutlich, dass meine Seele sich gegen ein Leben wehrte, mit dem ich mir nicht gerecht wurde.
So fragte ich mich, was von mir übrigbleibt oder besser was von mir zum Vorschein kommt, wenn ich all die Zwänge, die mir zuwider waren, von mir nahm. Ich begab mich auf die Suche nach meinem Lebenssinn. Wohin mochte wohl mein Lebensweg führen, wenn ich meinem Gefühl folgte?
Ich lernte, mir Hilfe zu holen, um Licht in mein inneres Gefängnis aus Zwängen zu bringen. Dabei stellte ich fest, dass ich das, was mir wirklich half, größtenteils selbst bezahlen musste. Alternative Therapien sind im Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenkasse zwar vorhanden, aber nur in geringem Maß. Letztendlich verkaufte ich mein Auto. Lieber Gesundheit als bequemer Luxus.
Mit Psychotherapie, Familienaufstellungen und verschiedenen körpertherapeutischen Methoden begann ich, die Fesseln meiner Erziehung zu lockern und meinen eigenen Weg einzuschlagen.
Der Spruch: "Wie leicht sich das sagt: Sich selber finden! Wie sehr man erschrickt, wenn es wirklich geschieht!" kam mir dabei oft in den Sinn. Wie unterschiedlich doch mein "altes" und mein "neues" Leben waren: Von der Apothekerin zur Heilpraktikerschule. Von der engen Bodenständigkeit zu spirituellen Erfahrungen. Von der unzufriedenen Ehefrau zum lebensfrohen Single. Von der Kopflastigkeit zum Weg des Herzens. Vom Pflichtbewusstsein zum Lustprinzip!
Ich schaffte es, meine körperlichen Symptome aus einer Art Beobachterposition heraus wahrzunehmen und mich immer weniger mit ihnen zu identifizieren.
Jede Erkenntnis, jeder bewusstgewordene Schmerz aus der Vergangenheit, jedes Vergeben, jeder Schritt nach vorn zu mir selbst ließ meinen Körper sich wieder ein Stückchen regenerieren. Meine Kraft kehrte mehr und mehr zurück.
Die Tadel, die ich von einigen Ärzten für meinen Widerstand gegen Medikamente geerntet hatte, schlugen in Bewunderung und auch in Unterstützung um, was mir sehr half.
Heute geht es mir viel besser. Ich habe mehr Lebensfreude und Lebensqualität als vor dem Beginn der MS, bin mehr ich selbst geworden. Es fühlt sich schön an.
Die MS ist meist still.
Aber ich habe auch gelernt, die Signale meines Körpers zu beachten. Ich mache Pause, wenn ich mich ausgebrannt fühle oder Kopfschmerzen bekomme. Kein zwanghaftes Durchhalten mehr! Ein tägliches Entspannungsprogramm und gesunde Mahlzeiten gehören zu meinem Leben. Ich achte auf mich und wundere mich manchmal darüber, was ich mir früher alles an Stress und Leistungsdruck zugemutet habe.
Die MS wird immer als Anlage in mir bleiben und mir den Weg weisen, wenn ich meine wirklichen Bedürfnisse übersehe. Doch ich bin sehr dankbar, dass ich den Hinweis bekommen habe, dass es mir nicht gut tut, brav zu funktionieren. Ich habe die Krankheit genutzt, um mein Leben in einer für mich guten Weise zu verändern.
Viele, viele Fragen habe ich mir auf meinem Weg gestellt:
- Was habe ich durch meine Krankheit gewonnen?
- Wovon erlöst mich meine Krankheit?
- Wie kann ich mir Erleichterung verschaffen und Belastungen abbauen?
- Was würde mir im Rahmen meiner Möglichkeiten gut tun?
- Wobei fühle ich Freude und Zufriedenheit?
- Mit wem habe ich etwas zu klären?
- Was wünsche ich mir für mein Leben?
- Was würde ich tun, wenn es mir etwas besser ginge?
- Was würde ich tun, wenn ich gesund wäre?
- Was ist mein Lebensziel?
- Was könnte ich tun, um meinem Ziel etwas näher zu kommen?
Mein Weg zu mir wird weitergehen, und es werden neue Fragen auftauchen. Es ist immer noch eine Steigerung des Wohlbefindens möglich. Und ich freue mich darauf...
Mit meinem Erfahrungsbericht möchte ich Menschen Mut machen, ihre körperlichen Beschwerden zu hinterfragen und zu verstehen, dass sie den Weg zu einem erfüllteren Leben weisen können - den Weg zu sich selbst!
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