Stiftung LEBENSNERV,
FORUM PSYCHOSOMATIK 1/00

Zur Bedeutung einer chronischen Krankheit für die Betroffenen

Auszüge aus dem Vortrag von Bettina Sonnack - 2. Preisverleihung

Teil 1 von 3 Teilen

Übersicht

Teil 1 Einleitung
Teil 2 Krankheitsausbruch
Die Bedeutung der MS im Leben der Betroffenen
  a) Die MS als Kompensation einer sozialen Deklassierung
Teil 3 b) Die MS als Waffe im Konflikt mit dem Partner und zur Abgrenzung und Leistungsverweigerung in der Familie
  c) Die MS als Mittel zur Durchsetzung einer eigenständigen Berufskarriere
  Zur Bedeutung der multiplen Sklerose für die Identität
  Anmerkung

 


Einleitung

Mit großer Freude nehme ich den Preis der Stiftung LEBENSNERV entgegen und zwar ganz bewusst als Sozialarbeiterin. Mein Spezialgebiet sind somit nicht die medizinischen Aspekte bei der Multiplen Sklerose. Mein Schwerpunkt ist vielmehr die alltägliche Lebenssituation von Menschen, die mit MS leben, verbunden mit allen Problemlagen, die sich im Umfeld, aber auch interpersonell dadurch ergeben.

Mein Ansatz, mich intensiv dem Thema „Psychosomatik bei Multipler Sklerose” zu widmen, war der, nach psychosozialen Faktoren zu suchen, die diese Krankheit beim Ausbruch und in ihrem Verlauf beeinflussen. Davon ausgehend wollte ich auf die Besonderheiten hinweisen, die sich für die Beratung und Betreuung von MS-Betroffenen ergeben. Ich habe diese Arbeit in erster Linie für SozialarbeiterInnen, aber auch für MS-Betroffene und ihre Angehörigen geschrieben.

Hier möchte ich kurz einfügen, dass ich generell in der weiblichen Form spreche, aber bitte die Männer mit eingeschlossen wissen möchte. Ich habe mich dazu entschieden, da sowohl bei den MS-Betroffenen wie auch im Berufsfeld der Sozialarbeit der Anteil der Frauen größer ist.

Ich interessiere mich grundsätzlich für sozialmedizinische Fragen, ausschlaggebend für meine Entscheidung zu dieser Arbeit aber war, dass ich selber seit einigen Jahren MS-Betroffene bin. Persönliche Erfahrungen sind aber nicht Gegenstand der Arbeit. Mir geht es vielmehr darum, deutlich zu machen, dass Krankheit auch als Symptom zu verstehen ist, indem sie auf krankmachende Lebensumstände hinweisen kann. Krankheit ist für mich nicht nur eine Abweichung von medizinischen Normen, sondern ist ein bedeutungsvolles Zeichen dafür, dass ein Mensch an dem Leben leidet, an dem er teilhat. Krankheit kann also als Schlüssel verstanden werden, Lebensumstände deutlich zu machen, die die Gesundheit und das Wohlbefinden des Menschen überstrapazieren. Sie kann darüber hinaus auch von möglichen Belastungsfaktoren zu „Gesundheitsfaktoren” verweisen. Damit verbunden ist die Frage nach dem: „Wie will ich leben?” und somit der Bereich der Wünsche nach einem zufriedenstellenden Leben jenseits bloßer Krankheitsabwesenheit.

Ich will nun zum Inhalt meiner Arbeit kommen:
Die Arbeit ist in drei Teile gegliedert; der erste Teil gibt eine Übersicht über die medizinischen Aspekte bei MS und über die Ätiologiemodelle. Darauf werde ich hier nicht näher eingehen. Im zweiten Teil habe ich eine empirische Arbeit von Henry Beland aus dem Jahr 1982 in den wichtigsten Ergebnissen dargestellt und kommentiert. Das war der Hauptteil, auf den ich gleich mehr Zeit verwenden möchte. Im dritten Teil kamen fünf MS-Betroffene im Rahmen von Interviews zu Wort, die ich wörtlich widergab, um ein besseres Verstehen für die LeserInnen meiner Arbeit zu ermöglichen.

Noch einige grundlegenden Bemerkungen zur Untersuchung von Henry Beland: Die Untersuchung lehnte sich in der Auswahl des Samples an eine prospektiv angelegte, epidemiologische Studie der Neurologischen Klinik der Universität Göttingen an. Hierbei werden seit 1964 kontinuierlich alle Neuerkrankungen, Krankheitsverläufe, Todesfälle, Umzüge usw. erfasst und beobachtet. Dies ist einmalig in der BRD. So ergibt sich eine nahezu lückenlose Dokumentation aller MS-Betroffenen in Südniedersachsen.

Die Studie von Beland wurde im Sommer 1978 durchgeführt. 92 MS-Betroffene wurde zuhause ausführlich zu ihrer Lebens-, Familien- und Krankengeschichte befragt. In ca. 50% der Fälle wurde ein Interview mit der Bezugsperson (meist EhepartnerIn) durchgeführt. Folgende Fragen standen im Mittelpunkt der Untersuchung von Beland: Welchen Stellenwert die Erkrankung an MS subjektiv im Leben der Betroffenen einnimmt, welche Krankheitstheorien die Betroffenen selber haben, wie sie mit der Krankheit umgehen, und welche Folgen diese für sie hat, und ob es eine wechselseitige Bedingtheit von Krankheitsverhalten und Schwere, Dauer und Verlauf der MS gibt.

In der Medizin liegt der Schwerpunkt der Forschung bei MS in der Suche nach den somatogenen Ursachen. Aber obgleich die Diagnoseverfahren in den letzten Jahrzehnten ständig verbessert wurden, ist man bei den Erkenntnissen zu den Ursachen der MS nicht sehr viel weitergekommen. Auch bei den Therapieverfahren liegt der Schwerpunkt auf der Erforschung von Medikamenten, nicht von Psychotherapie für MS-Betroffene.

Dies steht nun in krassem Widerspruch zu den subjektiven Einschätzungen der Betroffenen; der größte Teil von ihnen neigt zu einer sozio- und psychogenen Erklärung als Krankheitsursache, entsprechend wünschen sich viele MS-Betroffene psychotherapeutische Unterstützung. In der Betreuung von MS-Betroffenen stehen aber meist die medizinischen Aspekte im Vordergrund. Selbst im Beratungsbereich durch SozialarbeiterInnen liegt der Schwerpunkt meist ausschließlich bei der Lösung von finanziellen und rechtlichen Problemen.

Hier handelt es sich also um ein Missverhältnis zu den Wünschen und Bedürfnissen MS-Betroffener. Es ist unverständlich, wieso die psychosozialen Aspekte so wenig Berücksichtigung finden neben den anderen Problemlagen, die sich durch die Erkrankung an MS ergeben. Dabei scheinen soziogene Faktoren eine große Rolle bei der Krankheitsverarbeitung zu spielen und haben dadurch einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf den Verlauf der MS.

Für mich ist der wichtigere, neue Aspekt, der mir in dieser Deutlichkeit vor dem Schreiben meiner Diplom-Arbeit nicht bewusst war, welch entscheidende Rolle das Geschlecht hinsichtlich des Krankheitserlebens und -verlaufes spielt. Um nur einige Ergebnisse aufzuzählen:

Frauen erkranken zum einen häufiger als Männer, meist im Lebenszyklus auch früher, und sie haben die besseren Krankheitsverläufe. Nach der Selbsteinschätzung der Betroffenen zählen sich fast die Hälfte der Frauen zu den selbstbewussten Personen, aber nur 22% der Männer. Frauen „kämpfen” auch eher aktiv gegen die Krankheit, integrieren die MS leichter in den Alltag und fühlen sich durch sie nicht so belastet.

Frauen werden aber auch schneller als abhängig und behindert angesehen, wenn sie nämlich den Haushalt nicht mehr alleine führen können; für Männer gilt die gleiche Beurteilung erst, wenn sie ihre körperlichen Verrichtungen nicht mehr alleine bewältigen können.

Nun ist es interessant, wie es zu diesen geschlechtsspezifischen Unterschieden kommt, und oft wird ausgeblendet, dass traditionelle Rollenerwartungen den Lebensalltag von Betroffenen unterschiedlichprägen. So findet zum Beispiel ein MS-betroffener Mann, der nicht mehr erwerbstätig sein kann, keine gesellschaftlich legitimierte Alternative zu diesem Verlust wie eine Frau, von der in der gleichen Situation erwartet wird, dass sie den Haushalt führt.

Durchaus fällt es nicht allen Frauen leicht, eine Berufstätigkeit aufzugeben und die Rolle der Hausfrau und Mutter zu übernehmen. Im Gegenteil: In vielen Fällen weisen die Ergebnisse von Beland darauf hin, dass ein Zusammenhang zwischen der MS und der geselllschaftlich zugeschriebenen traditionellen Frauenrolle besteht, die nicht oder nicht mehr gewollt wird. Dennoch besteht für die Frau eher die Möglichkeit, eine andere oder modifizierte soziale Identität anzunehmen, die keine Stigmatisierung aufgrund der Erkrankung beinhaltet. Die unterschiedlichen Verlaufstendenzen sprechen dafür, dass die Abwehrreaktion gegenüber einer nicht gewollten beziehungsweise als permanente Überforderung empfundene Lebenslage bei den Frauen tendenziell eher gelingt als bei Männern.

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