Stiftung LEBENSNERV,
FORUM PSYCHOSOMATIK 1/00

Teil 3 (letzter Teil): "Zur Bedeutung einer chronischen Krankheit für die Betroffenen" von Bettina Sonnack

b) Die MS als Waffe im Konflikt mit dem Partner und zur Abgrenzung und Leistungsverweigerung in der Familie

Obwohl auch Männer die MS als Waffe in Konflikten in der Beziehung einsetzen, sind bei ihnen eher Beruf und ökonomische Potenz zentrale Themen; so sind dieser Gruppe 25 Frauen zugeordnet. Bei ihnen wird deutlich, wie sehr die Adaption an die Lebensumstände vom Verhalten der nächsten Umgebung der Betroffenen abhängt.

Einige der hier zugeordneten Frauen hatten vorher unter der Rücksichtslosigkeit ihrer Ehemänner seelisch sehr gelitten. Für alle gilt, dass durch die Thematisierung der MS zweierlei erreicht wurde:

Dies bezieht sich auf Forderungen nach Dienstleistungen in der Familie oder auf emotionale und sexuelle Forderungen des Mannes. Auch wird die MS als Schutz gegen eine unerwünschte Erwerbstätigkeit bei Knappheit der materiellen Ressourcen eingesetzt. So ist die MS ein Schutz für die Frau, nicht als Dienstmagd oder Sexualobjekt missbraucht zu werden.

Bei erfolgreicher Abgrenzung gegenüber dem Partner hat dies unmittelbare Auswirkung auf den Krankheitsverlauf; die meisten Frauen dieser Gruppe haben kaum oder nur geringfügige Symptome.

c) Die MS als Mittel zur Durchsetzung einer eigenständigen Berufskarriere

Dieser Gruppe sind sechs jüngere Frauen zugeordnet, die eine mittlere oder höhere berufliche Qualifikation haben oder anstreben. Alle hatten wegen Heirat oder Geburt eines Kindes die Berufstätigkeit aufgegeben und zeitgleich schwere MS-Schübe bekommen. Dadurch haben sie sich für die Berufskarriere entschieden, und diese teils gegen den Widerstand des Mannes durchgesetzt, weshalb es in drei Fällen zur Trennung kam. In allen sechs Fällen ist nun auffällig, dass es nach der Durchsetzung der eigenen Karriere und einer ökonomisch unabhängigen Lebensperspektive nicht mehr zu gravierenden Krankheitseinbrüchen kam; alle sechs Frauen sind weitgehend symptomfrei.

Interessant ist hier: Wird die MS als Mittel eingesetzt, nachdem die Erkrankung eingetreten ist, oder werden diese Betroffenen krank an MS, weil sie ihre Bedürfnisse und Interessen nicht anders durchsetzen können? Ist die MS für die Männer dieser Gruppe eine Entlastung von Verantwortung für ihr „Scheitern”, ihrem Mangel, als Mann in dieser Gesellschaft versagt zu haben? Und für die Frauen eine Möglichkeit der Leistungsverweigerung als „Dienstmagd auf lebenslänglich” beziehungsweise eine Chance, ihre eigene Karriere im Beruf durchzusetzen? Werden also gerade eher die Männer beziehungsweise die Frauen an MS krank, die den geltenden Rollenerwartungen nicht gerecht werden können oder wollen?

Nach den Untersuchungsergebnissen stellt die MS für 61% der Frauen eine Art “Lösungsversuch” dar, ihrem Leben eine Wende zu geben, zu einer angemesseneren Situation hin. Für 38% der Männer ist die MS Schutz vor der Übernahme der Verantwortung für den erreichten sozialen Status, der ihnen und /oder anderen zu gering erscheint.

Zur Bedeutung der multiplen Sklerose für die Identität

In 77% aller Fälle kommt es durch die Erkrankung an MS zu einem Identitätsgewinn, in 15% der Fälle zu einem Festhalten an einer “unbeschädigten” Identität, und nur in 8% der Fälle zu einem Identitätsverlust, der zur Selbstaufgabe führt.

Geschlechtsspezifisch unterschieden kommt es für 91% der Frauen zu einem Identitätsgewinn, doch nur für 57% der Männer. Umgekehrt führt die Erkrankung nur bei 9% der Frauen zu einer Identitätsbedrohung oder zu einem Verlust der Identität, während dies für 43% aller Männer gilt.

Eine Belastung durch die Erkrankung ergibt sich für 43% der Betroffenen in der Alltagsroutine - wiederum mit geschlechtsspezifischen Unterschieden -, doch nur für 32% aller Befragten ist dies von zentraler Bedeutung.

Bemerkenswert sind diese Ergebnisse, weil es somit offenbar dem Großteil der Befragten gelingt - und hier vor allen Dingen den Frauen -, die Erkrankung an MS zu einem positiven Faktor in ihrem Leben zu verarbeiten.

Wenn man abschließend die Ergebnisse auf eine Wechselwirkung zwischen Verlauf der MS und der Art ihrer Bewältigung untersucht, drängt sich bei allen Vorbehalten, die bei einer retrospektiven Untersuchung bestehen, die Hypothese auf, dass nicht die Art der Bewältigung für den Krankheitsverlauf entscheidend ist, sondern welcher Art der der Erkrankung innewohnende Sinn ist, und in welchem Maße es den Betroffenen gelingt, diese Sinnhaftigkeit gegenüber ihrer Umgebung durchzusetzen. Dabei kann der intendierte Sinn ambivalent sein und ist keineswegs immer auf Gesundung und Rückkehr in das Leben gerichtet. Das bedeutet, dass entscheidend für einen weiteren günstigen Krankheitsverlauf das Gelingen einer Adaption an das Leben sein könnte (vgl. Beland, S.498-526).

Anmerkung

Erstveröffentlichung in FORUM PSYCHOSOMATIK 1/96.

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