Stiftung LEBENSNERV, FORUM PSYCHOSOMATIK 1/00 |
Mechthilde Kütemeyer im Interview (s.a. Anmerkungen)
Teil 1 von 4 Teilen
Übersicht
Teil 1 - 3 | Interview |
Teil 3 | Literatur |
Anmerkungen | |
Teil 4 | Welche Heilmittel braucht die Medizin? |
Ärztliche Praxis: Frau Kütemeyer, Sie haben davon
gesprochen, das Kranke an der heutigen Medizin bestehe darin, dass zuviel
gehandelt wird, bevor überhaupt etwas wahrgenommen und verstanden wird.
Wir bräuchten eine Kultur der Wahrnehmung, der Wahrnehmung mit unseren
Sinnen, ohne zusätzliche Hilfsmittel.
Kütemeyer: Die
Medizin lebt aus Para-Informationen. Neben den technischen und Laborbefunden,
die den Schein der Sicherheit erwecken, aber nur Abbilder liefern, wird das
direkte Erleben mit dem Patienten unverhältnismäßig klein
geschrieben. Den gläsernen Menschen sehen wir nur mit Hilfe
von Apparaten, nicht mit bloßen Augen. Mit den Augen sehen wir die Haut,
die Gesichtsfarbe, das Leuchten oder Nicht-Leuchten des Blicks, den Gang, die
Haltung wir könnten so viel wahrnehmen. Viele Krankheiten, gerade
neurologische, kann man in der Straßenbahn erkennen, oder wenn der
Patient zur Tür hereinkommt, sich auf den Stuhl setzt da kann man
bereits vieles für die Diagnose Hilfreiches sehen.
ÄP: Aber Sehen steht nicht auf dem Lehrplan.
Kütemeyer: Wir haben im Medizin-Unterricht
Beobachtungs-Übungen durchgeführt: Es kam vor, dass keiner der
Studenten bemerkte, dass einem Patienten zwei Finger fehlen. Das Denken in
Laborwerten und technischen Daten, das Geschultsein in Endoskopie verdeckt den
Blick für das äußerlich Sichtbare.
ÄP:
Ohne die Technik geht es auch nicht.
Kütemeyer: Richtig.
Aber die Aussagekraft der technischen Leistungen wird zu hoch bewertet. Diese
werden auch, gegenüber den unmittelbaren ärztlichen Leistungen
Anamnese, körperliche Untersuchung, Gespräch , entschieden zu
hoch bezahlt. Der ursprüngliche Sinn dieser Gebühren-Unordnung
den Ärzten, die nicht bereit waren, in ihrer Praxis auch nur ein EKG
anzuschaffen, Apparate attraktiver zu machen ist längst
übererfüllt. Eine Revision steht an, die den zeitlichen Aufwand
für kommunikative Leistungen attraktiv macht. Die Medizin hat sich
aufgeplustert mit dem naturwissenschaftlichen Ideal des Durchschauens,
Berechnens, Beherrschens. Krankheiten sind keine Defekte, die repariert werden
müssen, sondern ganz spezifische Antworten auf spezifische Situationen
und zwar alle Erkrankungen, nicht nur die funktionellen,
psychogenen, sondern auch die organischen Krankheiten. Wie die
körperliche Disposition etwa der MS auch beschaffen und die Krankheit
somatisch entstanden sein mag (vieles spricht für Autoimmunreaktionen nach
früheren Infekten; trotz emsiger Forschungen ist man auf dieser Ebene seit
langem nur wenig weitergekommen), der Beginn der Erkrankung ist offensichtlich
biographisch mitbegründet:
Bei einem holländischen Juden begann die MS 1943, als er, vor den Deutschen im Keller versteckt, oben in seinem Laden die Liebesszene seiner Frau mit einem Angestellten mit anhören musste und sich wegen der Gefahr nicht wehren konnte.
Bei einer 43jährigen Psychotherapeutin entwickelt sich wenige Wochen nach einer unfreiwilligen Abtreibung auf Drängen ihres Lebensgefährten, der aus seiner Ehe bereits halbwüchsige Kinder hat ein quälender Spasmus der linksseitigen Gesichtsmuskulatur, der den Eindruck von Dauerweinen erweckt. Erst im Verlauf einer Retrobulbärneuritis (Sehstörung) ein Jahr später wird die MS diagnostiziert.
Es ist eine beobachtbare Realität, dass Krankheiten einen Sinn im
Leben haben, dass sie eine Botschaft an die betroffene Person und ihre Umgebung
vermitteln. Die Bereitschaft der Patienten, ihre Krankheit aus diesem
Blickwinkel zu betrachten, ist allerdings sehr verschieden.
ÄP: Aber wie komme ich an diese Botschaft heran, wie
entschlüssele ich den Sinn?
Kütemeyer: Mit der
körperlichen Untersuchung erreichen Sie den Menschen zuweilen mehr als im
Gespräch, denn dadurch erhalten wir, neben den pathologischen Befunden im
engeren Sinne, wichtige szenische Informationen, häufig kontrastierend zu
dem Eindruck vom Patienten im Gespräch:
Eine Patientin mit Gesichtsschmerz wirkt bei der Anamnese durch ihren bitteren Zug um den Mund und ihr strenges Kinn abweisend. Bei der Untersuchung sehe und taste ich einen geschmeidigen Rücken. Ich spreche sie darauf an. Sie weint. Wir verstehen beide, dass sie eine verborgene weiche Seite hat, dass sie hart geworden ist und sich so zeigen muss.
Das sind Kontrasterfahrungen, die Psychologen oder Psychotherapeuten so
kaum machen können, wenn sie nicht körperlich untersuchen, die aber
auch Mediziner häufig nicht registrieren. Wahrnehmung ist kein
gradliniger, sondern ein reziproker, zirkulärer, ein kommunikativer
Vorgang.
ÄP: Das ist mir etwas zu hoch.
Kütemeyer: Bei der Wahrnehmung geht es um die sichtbaren und um die
unsichtbaren Dinge. Es geht um Erinnerung. Erinnerung heißt nach
innen schauen. Unsere basalen ärztlichen Instrumente sind die
Anamnese und die körperliche Untersuchung. Anamnese ist das griechische
Wort für Erinnerung. Dabei wird etwas durchsichtig: die Vergangenheit wird
durchsichtig, manchmal auch die Gegenwart und die Zukunft. Und wir begreifen,
was Schmerzen bereitet, was das Herz schwer macht, an die Nieren geht, auf den
Magen drückt. Ein lange verdunkeltes Gebiet, ein Gefühlsbereich, wird
plötzlich durchsichtig und fließt als Tränen aus dem
Körper heraus. Die Erleichterung kann man am Körper ablesen, sie
spielt sich nicht nur im nebligen, psychischen Raum ab, sondern körperlich
sichtbar.
ÄP: Angenommen, ich bin Neurotiker und will mich
nicht erinnern.
Kütemeyer: Ihr Körper spricht, auch
wenn Sie nicht wollen (oder können). Erinnerung kann sehr verschieden
zustande kommen zwischen Arzt und Patient. Es gibt zum Beispiel Körper,
die sind übersät mit Narben, und diese Narben können als
Einstieg dienen zur Erinnerung. Der Körper ist eine Landkarte von
Erinnerungsspuren; jede Narbe hat ihre eigene Geschichte, die der Patient
erzählen kann. Man erfährt unglaublich viel über die Eigenart
eines Menschen, wenn man nur während der körperlichen Untersuchung
mit dem Finger über die Narben geht und ganz unschuldig fragt Was
war denn das?. Oft kommen dabei Schlüsselgeschichten zutage,
Unfälle, Verletzungen, die das Leben verändert haben.
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