Stiftung LEBENSNERV, FORUM PSYCHOSOMATIK 1/00 |
Teil 4 (letzter Teil): "Die Medizin braucht mehr "weibliches" Denken", Interview mit Mechthilde Kütemeyer
1. Die Medizin braucht ein Anti-Hybris-Mittel. Sie muss lernen,
dass man nicht alles durchleuchten, aufklären, nicht alles heilen kann;
dass Krankheiten nicht Defekte sind, die repariert werden müssen, sondern
einen Sinn und eine Bedeutung haben für den Betroffenen und seine
Umgebung.
2. Die Medizin braucht Übersetzer der
Körpersprache, die verstehen, was an die Nieren geht, auf den Magen
drückt, das Herz schwer macht, Kopfzerbrechen bereitet. Da muss gesprochen
werden: über Erinnerungen, Geheimnisse, unterdrückte Wünsche,
gefesselte Gefühle.
3. Die Medizin braucht eine Aufwertung
der Sprechstunde, sie braucht Fachärzte für Erinnerungs- und
Befreiungsmedizin.
4. Die Medizin braucht eine
moralische Physiologie und Pathologie, eine Lehre von der Wirkung
pathogener Ideale, der Wirkung verleugneter Gefühle, Denkverbote und
erstickter Triebe auf die Körperfunktionen, auf Entstehung und Verlauf von
Krankheiten. Die bisherige Nutzphysiologie bedarf einer lustbiologischen
Ergänzung.
5. Die Medizin braucht eine Aufwertung der
weiblichen Methoden: Die männlichen Methoden, das
Eindringen, Durchleuchten, Spritzen und andere invasive Maßnahmen,
dürfen an Bedeutung zurücktreten, Wahrnehmen, Einfühlen,
Empathie und Verstehen an Bedeutung zunehmen.
6. Für die
Verfeinerung der Wahrnehmung brauchen wir nicht die schnelle und aktive
Medizin, sondern eine Medizin der Langsamkeit.
7. Die Medizin
braucht Abrüstung, weniger apparative Hochrüstung in den
Kliniken (die viel Personal schluckt); statt dessen Personal, das Zeit hat,
abwarten, zweifeln, Fragen stellen und offen lassen kann und für
Kommunikation ausgebildet ist.
8. Die Medizin braucht Laien und
von Krankheit Betroffene, die bei Entscheidungen mitreden und mitbestimmen. Es
fehlen die Schöffen und Geschworenen in der Medizin.
9.
Die Medizin braucht eine Iatrie, sie muss wieder lernen, zu beobachten, was
wirklich hilft. Im neuen Lehrbuch der Therapie dürfen Medikamente wie
Sprache®, Erinnerung®, Äußerung®, Befreiung®
und die Beschreibung ihrer Wirkungen und Nebenwirkungen nicht
fehlen.
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