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FORUM PSYCHOSOMATIK 1/00

Teil 3: "Die Medizin braucht mehr "weibliches" Denken", Interview mit Mechthilde Kütemeyer

ÄP: Da stehen Sie aber in einem auf „Reparatur“ getrimmten Medizinbetrieb ziemlich auf verlorenem Posten.

Kütemeyer: Nein. Viele Patienten wünschen sich einfühlsamere Ärzte, viele Ärzte wünschen sich mehr Zeit für ihre Patienten. Wir müssen aufhören, die Medizin, den Körper als Kriegsschauplatz zu betrachten. Die Schnelligkeit der „Waffen“, die Schnelligkeit, mit der die technischen Methoden funktionieren, mit der man zum Beispiel in wenigen Minuten mit dem CT einen Menschen „in Scheiben schneiden“ kann, verlockt und verführt. Wir brauchen eine Medizin der Langsamkeit. Wir können gar nicht langsam genug beobachten, nicht langsam genug denken, nicht lange genug warten, bis wir handeln.

ÄP: Welcher Patient toleriert das? Da macht doch keiner mit.

Kütemeyer: Die meisten Patienten honorieren es sehr, wenn man sich für sie Zeit nimmt. Was soll man tun als Arzt, wenn man nicht weiter weiß, wenn die Befunde nicht zusammenpassen, wenn die Krankheiten nicht so verlaufen, wie sie im Lehrbuch stehen? Nichts sollte man tun, abwarten, sich die Beschwerden vom Patienten erneut erzählen lassen und dabei alle Sinne aufsperren. Der Patient toleriert dies, wenn ich ihm erkläre, dass es für die Diagnose nötig ist. Es ist mehr die Hektik des Klinik- und Praxisalltags, die das nicht mitmacht. Wenn man in der Notaufnahme einer Klinik versucht, einen Anfall in Ruhe zu beobachten – man weiß noch nicht, ist es ein epileptischer, ein hysterischer Anfall, man steht nur da und beobachtet: was man dann an Vorwürfen zu hören und an Handlungsdruck zu spüren bekommt! Von den Ärzten und den Angehörigen wird einem ein schlechtes Gewissen gemacht, dass man nichts tue und das Leben des Patienten gefährde.

ÄP: Sie erwähnen den Handlungsdruck, unter dem man steht. Durch Handeln kann man aber doch auch den Patienten entlasten?

Kütemeyer: Meist dient das schnelle Handeln zur Entlastung des Arztes, der Unsicherheit, Zweifel nicht aushalten kann. Ein Arzt, der nicht zweifelt, ist kein guter Arzt. Ich verstehe diese Art des Umgangs, des abwartenden Verhaltens in medizinischen Notsituationen als Abrüstung, Ablegen medizinischer Rüstung, Verzicht auf apparative Hochrüstung. Das heißt nicht, dass wir die Technik, die viel Erleichterung, Aufschlüsse, Erkenntnisse bringt, nicht im guten Sinne in der Medizin benutzen. Aber die Technik muss Dienerin der ärztlichen Untersuchung und Therapie bleiben und wieder werden, damit die Anamnese, die Erinnerung, die Beobachtung des belebten Körpers nicht verloren geht.

ÄP: Also kein Heil in der Heilkunst?

Kütemeyer: Wir müssen überhaupt erst eine neue Heilungslehre entwickeln. Unsere herkömmliche medizinische Heilungslehre ist dürftig, eindimensional. Die klinische Beobachtung läßt aber in Umrissen einige Gesetze erkennen:

Erstens: Wir müssen lange abwarten, bis wir eine Krankheit annähernd, auch innerlich, verstehen, erst dann sollten wir handeln, behandeln.

Zweitens: Das richtige, gezielte Heilmittel wird daran erkannt, dass eine geringe Dosis eine große Wirkung erzielt. Die meisten Medikamente, vor allem Schmerzmittel, die lange, oft und in höherer Dosis genommen werden müssen, sind vermutlich falsch.

Drittens: Das richtige Heilmittel führt häufig initial zur Verschlimmerung der Symptomatik. Ärzte, die dieses Gesetz nicht kennen, nehmen an, sie seien auf dem falschen Weg, und wechseln, statt abzuwarten, das Medikament. So wird die Heilung, die schon im Gange ist, verpasst, verspielt.

Viertens: Viele Patienten wollen gar nicht gesund werden. Die Krankheit ist häufig ihr einziges Kommunikationsmittel, oder sie haben sonst einen dem Arzt unbekannten Gewinn durch die Krankheit, die ihnen deshalb nicht einfach weggenommen werden kann. Anstatt der eigenen Heilsucht und Gesundheitsvorstellung zu erliegen, sollte der Arzt zuerst nach diesen inneren und ganz individuellen Gesetzen und Gewinnen der Krankheit fragen und diese genau kennenlernen. Die herkömmliche Medizin handelt meist in der Annahme, der Patient wolle schnell gesund werden; und auch der Patient drängt ihn, scheinbar, in diese Richtung. So wird die Medizin teuer, weil der meist unbewusste Gegenwille des Patienten oft stärker ist. Der Arzt sollte sich häufiger der Behandlung verweigern: Ich kann nein sagen, abwarten, damit Raum entsteht für den Gewinn der Krankheit. So wird sichtbar, wer Heilung wirklich will, auf welche Weise und wann. So entsteht Raum für das Ja oder Nein des Patienten.

ÄP: Das klingt so gar nicht zeitgemäß.

Kütemeyer: Eine Medizin, die solche Heilungsgesetze kennt und respektiert, kann sich viel Mühe, Hektik und Kopfzerbrechen, viele Kostenexplosionen ersparen und viele Diskussionen über die Kostensenkung.

Literatur

S. Ferenczi:
Versuch einer Genitaltheorie, Kap. X: Bioanalytische Konsequenzen.
In: M. Balint (Hrsg.): Schriften zur Psychoanalyse II, S. 388-400, Frankfurt/M. 1972 (Fischer)
P. Helmich:
Der Hausarzt als Psychosomatiker.
In: R. Adler, W. Bertram, A. Haag, J.M. Herrmann, K. Köhle, Th. von Uexküll (Hrsg.): Integrierte psychosomatische Medizin in Praxis und Klinik; 2. Auflage, 1992, S. 83-92, Stuttgart/New York (Schattauer)
H. Huebschmann:
Krankheit - ein Körperstreik. Lebenskonflikte und ihre Bewältigung.
Freiburg/Basel/Wien (Herder, 1974)
K. Huebschmann:
Das Bild des Menschen in einer Erinnerungs- und Befreiungsmedizin.
Berliner Ärzteblatt, Heft 5, 1988.
M. Kütemeyer:
Früherkennung psychogener Schmerzen.
Berliner Ärzteblatt, Heft 5 (1988), S. 544-550.
M. Kütemeyer:
Schwerpunkt psychosomatische Neurologie.
In: R. Adler et al. (Hrsg.): Integrierte psychosomatische Medizin, a.a.O. S. 327-341.
H. Schüller:
Die Gesundmacher.
Rowohlt 1993.

Anmerkungen

Dr. med. Nikolaus Brass befragte im Auftrag der Zeitschrift "ÄRZTLICHE PRAXIS" - ÄP, Die Zeitung des Arztes in Klinik und Praxis, 45. Jahrgang Nr. 44 (Seite 21 bis 23) vom 1. Juni 1993 die Psychosomatikerin und Neurologin Dr. Mechthilde Kütemeyer, die neun provokante Thesen in die Debatte geworfen hat.
Für FORUM PSYCHOSOMATIK, Ausgabe Sommer 1994 ergänzte Frau Kütemeyer das Interview mit ÄP.

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