FORUM PSYCHOSOMATIK

Zeitschrift für Psychosomatische MS-Forschung, 25. Jahrgang, 2. Halbjahr 2015

Die persönliche Sicht von MS - MS im Film

Irgendwie scheint die Zeit für Filme über MS gekommen zu sein - halt, nicht Filme "über" MS, sondern Dokumentarfilme, die Menschen zu Wort kommen lassen, die mit der Diagnose MS leben. Das ist ein Unterschied zu Filmen, in denen SchauspielerInnen mehr oder weniger gekonnt Menschen mit MS verkörpern und eine Rolle nach Drehbuch spielen. Ein Drehbuch gibt es bei den deutschen oder schweizerischen ProtagonistInnen, von denen hier die Rede ist, nicht. Und die Zeit ist auch dafür gekommen, dass die FilmemacherInnen ziemlich nah mit der MS in Berührung sind: Sabina Marina, Regisseurin der "Kleinen grauen Wolke" lebt selber mit MS und bei Jann Kessler, Regisseur von "Multiple Schicksale", ist es die Mutter, die MS hat, seit er fünf Jahre alt ist.

FORUM PSYCHOSOMATIK hat in der Vergangenheit häufig über den Ansatz der "Narrativen Medizin" berichtet, einem Ansatz, der die Menschen selber ihre Geschichten und ihre Deutungen erzählen lässt. Deshalb schreiben wir hier an dieser Stelle nichts über den Inhalt der Filme und die Geschichten, die dort erzählt werden, sondern halten uns zurück und berichten lediglich über die Motive der MacherInnen. Uns interessiert Ihre Meinung zu den beiden Filmen - wenn Sie Lust haben, schreiben Sie uns!


Beispiel Deutschland: "Kleine graue Wolke"

Der nachstehende Text stammt aus dem Blog http://kleinegrauewolke-blog.de der Filmemacherin Sabine Marina, bei der im Jahr 2011 MS diagnostiziert wurde, was von ihrem Arzt als "kleine graue Wolke" betitelt wurde. Daraus entstand der gleichnamige Dokumentarfilm, der am 24. September 2015 in Köln Premiere hatte. Jetzt kommt zum 22. Januar 2016 die DVD auf den Markt.

"Ich frage mich manchmal, was wohl passiert wäre, wenn mein Arzt die Diagnose MS nicht als "kleine graue Wolke" an meinem blauen Himmel umschrieben hätte. Wahrscheinlich hätte ich trotzdem einen Film daraus gemacht, nur mit weniger schönem Namen. Die MS traf mich mit voller Schlagkraft im Studium Medienproduktion, 4. Semester, kurz vor den letzten Prüfungen. Im Nachhinein kann ich mich kaum erinnern, wie ich diese ganzen Klausuren und Hausarbeiten mit der Sehnerventzündung und der Diagnose im Schlepptau geschafft habe.

Weil mich so viele Texte im Netz verstört und deprimiert haben, kam nach drei Monaten die kleine graue Wolke wieder ins Spiel. Ich wollte herausfinden, ob mein Arzt recht hat. Ob es wirklich diese kleine graue Wolke sein kann. Ob der schwarze Himmel um mich herum verschwindet und wieder blau werden kann, wie er gesagt hat. Die Kino-Dokumentation „Kleine graue Wolke“ ist geboren.

Mit Abschluss der Dreharbeiten habe ich nun eine eigene Filmproduktionsfirma und möchte weiterhin Menschen mit MS filmisch porträtieren. Es ist nicht nur unglaublich bereichernd, all diese Personen kennenzulernen, es ist einfach offenbarend, was sich mit einem Film verändern lässt. Eine unsichtbare Krankheit sichtbar machen. Das ist mein Ziel.

So kurz vor dem Ende des Studiums mit der Diagnose MS konfrontiert zu werden, war ein harter Schlag, doch er hat viele spannende Sachen in meinem Leben verändert, und das vor allem zum Guten! Seit ich mir über meinen Berufswunsch klar bin, habe ich mich oft gefragt, wo sich die Nützlichkeit in ihm verbirgt, abgesehen von Entertainment. Allein das hat mir die MS jetzt eröffnet: Nie zuvor habe ich so sehr gespürt, wie man mit einem Film Hilfe, Hoffnung und Gemeinschaft geben kann."

Sabine Marina (29), geborene Volgmann, ist in Detmold geboren und aufgewachsen. Nach einer Ausbildung zur Fachkraft für Veranstaltungstechnik in Hamburg hat sie 2009 das Studium der Medienproduktion an der Hochschule Ostwestfalen-Lippe in Lemgo begonnen.

Trailer und weitere Infos stehen unter http://kleinegrauewolke.wfilm.de

Beispiel Schweiz: "Multiple Schicksale"

Als seine Mutter nicht mehr in der Lage ist zu sprechen, setzt sich Jann Kessler vermehrt mit der Krankheit MS auseinander. In der Hoffnung, mehr zu erfahren, macht sich der 18-Jährige auf die Suche: Aufwändige Recherchearbeiten und das persönliche Kennenlernen von 15 Menschen mit MS gingen der Entscheidung voraus, einen Film über einige der Personen zu drehen. Schlussendlich erzählen die Personen auf sehr eindrückliche und offene Weise, wie sie mit der MS, aber auch mit sich und ihrem Leben umgehen. Trotz der manchmal massiven Einschränkungen können Luana, Bernadette, Rainer, Melanie, Oliver und Graziella ihr Leben zeitweise genießen und es sehr intensiv erleben. Aber dies ist nicht einfach, was die gezeigte Auseinandersetzung mit Suizidgedanken und der eigenen Endlichkeit verdeutlicht.

"Für mich als Angehöriger einer MS-Betroffenen war es sehr spannend, die ersten Gespräche zu führen", sagt Kessler. "Ich merkte, dass ich sehr schnell Vertrauen gewinnen konnte - doch wusste mein Gegenüber, dass ich durch meine Betroffenheit vieles sehr gut verstehen konnte. Schlussendlich entschied ich mich dazu, sechs Menschen in meinem Film zu begleiten. Aber auch hier nahm ich mir Zeit, ließ die Kamera während den ersten Besuchen zu Hause. Stattdessen half ich den Protagonisten im Haushalt, lernte die Familie kennen, redete und erzählte von meinen Erfahrungen. Das ermöglichte ein tiefes Vertrauen, das Entstehen einer Freundschaft. Dieses Vertrauen, so glaube ich, spürt man durch den gesamten Film."

Im Film verarbeitet der Filmemacher zudem die Erfahrungen mit seiner Mutter, die er auch porträtiert. Er versucht zu verstehen, wieso sie den Weg des Verdrängens der Krankheit gegangen ist und probiert, ihre Entscheidungen im Nachhinein zu akzeptieren. Während der Dreharbeiten beginnt Jann Kessler, seine Mutter häufiger im Pflegeheim zu besuchen und ihr Geschichten vorzulesen. Immer häufiger filmt er bei diesen Besuchen auch, obwohl sie den Aufnahmen nicht mehr willentlich zustimmen kann. Im Pressetext zu diesem Film heißt es dazu "Dadurch gibt er den Betrachtern die Möglichkeit, einen tiefen Einblick in seinen eigenen Verarbeitungsprozess zu erhalten." Ich finde, dass dies unter ethischen Aspekten äußerst problematisch ist, auch wenn er tausendmal der Sohn ist. Ich jedenfalls möchte dem zustimmen, falls meine Tochter ähnliche Absichten hätte - womit im Augenblick allerdings nicht zu rechnen ist. Kessler sagt selber dazu: "Auch die Frage, ob es richtig ist, dass ich meine Mutter filme, obwohl sie sich selbst dazu nicht mehr äußern kann, fiel mir nicht leicht. Schlussendlich haben wir in der Familie die Entscheidung gefällt - ja, Mama soll Teil des Filmes werden. Aber auch mein eigenes Suchen - meine Reise - ist schlussendlich der rote Faden des Filmes und die Geschichte, die die anderen zusammenhält."

Filmstart von "Multiple Schicksale" war in der Schweiz am 2. Oktober 2015. Infos zum Film sind nachzulesen unter http://www.ms-film.ch

(Illustrationen zum schweizerischen Film befinden sich am Ende der gerade genannten Webseite)
HGH





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