FORUM PSYCHOSOMATIK

Zeitschrift für Psychosomatische MS-Forschung, 24. Jahrgang, 1. Halbjahr 2014

Die Pharma-Lüge

von Ben Goldacre – Leseprobe aus der Einleitung zu seinem Buch*

Am Beginn meiner Ausführungen steht die Verteidigung meiner Kernaussage: Von der Pharma Branche finanzierte klinische Studien erbringen häufiger Resultate, die dem Arzneimittel des Geldgebers schmeicheln. Das ist mittlerweile ohne jeden Zweifel durch Forschungen nachgewiesen. In diesem Abschnitt begegnen wir auch erstmals der sogenannten systematischen Übersichtsarbeit. Eine Übersichtsarbeit erfasst unvoreingenommen alle vorhandenen Studien zu einem bestimmten Thema. Sie ist der qualitativ beste Beleg, den man anbringen kann – und wo immer eine systematische Übersichtsarbeit vorliegt, wird in diesem Buch auch darauf verwiesen. Dazu kommen einzelne Studien, die einen Eindruck davon vermitteln, wie Forschung betrieben oder Unheil angerichtet wird.

Anschließend wenden wir uns der Frage zu, wie die Pharmaindustrie die vielen positiven Studien zu ihren Arzneimitteln zu Wege bringt. An unserem ersten Halt werden wir sehen, dass ungünstige Studiendaten Ärzten und Patienten schlicht vorenthalten werden können. Eine Firma hat durchaus das Recht, sieben Studien durchzuführen, aber nur zwei positive zu veröffentlichen und das wird auch ausgiebig so betrieben. Dieses Prozedere kommt auf allen Gebieten der Naturwissenschaften und der Medizin vor: in der Grundlagenforschung im Labor, wo selektiv publizierte Ergebnisse mit falschpositiven Befunden dem Leser wissenschaftlicher Literatur die Zeit stehlen, in der Frühphase von Studien, in der Hinweise auf die Gefährlichkeit von Arzneimitteln vertuscht werden, oder in den großen klinischen Studien, die der Information der medizinischen Praxis dienen. Weil Ärzten und Patienten so viele Studiendaten vorenthalten werden, haben wir keine klare Vorstellung davon, wie Routinebehandlungen eigentlich wirken. Die Beispiele in diesem Abschnitt reichen von Antidepressiva über Statine, Krebsmedikamente und Diätpillen bis hin zum Grippemittel Tamiflu. Aus Angst vor einer Pandemie geben Staaten in aller Welt Milliarden von Euros für die Bevorratung dieses Medikaments aus, obwohl Belege dafür, ob es die Zahl von Lungenentzündungen und die Sterblichkeit tatsächlich senkt, bis heute zurückgehalten werden.

Nun gehen wir einen Schritt zurück und schauen uns an, wo die Arzneimittel eigentlich herkommen. Wir verfolgen die Medikamentenentwicklung ab dem Moment, in dem sich jemand ein neues Molekül ausdenkt. Es folgen Laborversuche, Tierversuche, die erste Erprobung am Menschen und die Nachweise zur Wirksamkeit des Medikaments für den Patienten. Hier werden wir die eine oder andere Überraschung erleben. Hoch riskante „First-in-Man“-Tests, also die erstmalige Erprobung am Menschen, werden an Obdachlosen durchgeführt, und seit wenigen Jahren werden klinische Studien auch zunehmend globalisiert. Daraus ergeben sich tiefgreifende ethische Probleme, weil Studienteilnehmer in Entwicklungsländern im Zweifel nicht von den teuren neuen Arzneimitteln profitieren. Außerdem stellt sich die Frage, wie vertrauenswürdig diese Daten sind.

Anschließend betrachten wir die regulatorischen Hindernisse, die zu überwinden sind, um ein Arzneimittel auf den Markt zu bringen. Wir werden sehen, dass die Latte hier sehr niedrig liegt: Ein Medikament muss nur nachgewiesenermaßen besser sein als kein Medikament, auch wenn es bereits hoch wirksame Präparate auf dem Markt gibt. Das bedeutet, dass Patienten ohne guten Grund Placebos erhalten und dass neue Arzneimittel auf den Markt kommen, die schlechter sind als die vorhandenen. Die versprochenen Folgestudien führen die Konzerne nicht durch, ohne Konsequenzen fürchten zu müssen. Daten zu Nebenwirkungen und Wirksamkeit werden oft nicht an die Behörden weitergeleitet, während diese wiederum Ärzten und Patienten ihnen vorliegende Daten vorenthalten. Wir werden sehen, was für einen Schaden sie mit dieser Geheimniskrämerei anrichten. Je mehr Beteiligte die Augen offen halten desto eher fallen Probleme mit Arzneimitteln auf. Folgenschwere Fehler werden daher von den Behörden oft übersehen und von Forschern ans Licht gebracht, die sich den Zugang zu den Daten erst hart erkämpfen müssen.

Anschließend unternehmen wir eine Tour durch die „schlechten Studien“. Man geht ja davon aus dass in einer einfachen klinischen Studie eine Arznei immer ordentlich getestet wird, und wenn sie anständig durchgeführt wird, stimmt das auch. Aber über die Jahre hat sich eine Reihe von Tricks eingeschlichen, mit deren Hilfe die Forscher die Vorzüge der getesteten Mittel aufbauschen. Manches sieht auf den ersten Blick aus wie ein verzeihliches Missgeschick. Mal ehrlich: Ich bezweifle das, interessiere mich aber ohnehin mehr für die Gewieftheit dieser Tricks. Wir werden sehen, wie offensichtlich manipuliert wird und dass die Verantwortlichen, von den Ethikkommissionen bis hin zu den Fachzeitschriften, die es besser wissen müssten, den Konzernen und Forschern ihre empörenden Fälschungen durchgehen lassen. Nach einem kurzen Abstecher zu einem Lösungsvorschlag für die Problematik schlechter Nachweise und fehlender Befunde wenden wir uns der Vermarktung von Arzneimitteln zu, auf die sich auch die meisten der bereits vorliegenden Bücher über die Pharmaindustrie konzentrieren.

Hier werden wir sehen, dass pharmazeutische Unternehmen viele Milliarden Euro im Jahr für die Beeinflussung des Verschreibungsverhaltens von Ärzten ausgeben. Es fließt sogar doppelt so viel Geld in die Vermarktung und Werbung wie in die Forschung und Entwicklung neuer Arzneimittel. Wir alle möchten, dass Ärztinnen und Ärzte Medikamente auf der Basis gültiger wissenschaftlicher Nachweise verschreiben, doch diese hohen Aufwendungen können nur einem Zweck dienen: der Verfälschung der evidenzbasierten Medizin. Da das viele Geld von den Patienten und vom Staat kommt, bezahlen wir diese Manipulation aus der eigenen Tasche. Ärzte, die 40 Jahre lang praktizieren, kommen im Anschluss an ihr Studium kaum in den Genuss einer formalen Fortbildung. Die Medizin verändert sich aber in vier Jahrzehnten grundlegend. Zwar bemühen sich die Mediziner, Schritt zu halten, doch sie werden mit Informationen geradezu bombardiert. Die Maßnahmen reichen von der Werbung, die Vorzüge und Risiken neuer Medikamente falsch darstellt, über Pharmavertreter, die vertrauliche Rezeptdaten von Patienten ausspionieren, Ärztekollegen, die klammheimlich von Pharmaunternehmen bezahlt, und „Fort-bildungen“, die von der Pharmaindustrie finanziert werden, bis hin zu „unabhängigen“ wissenschaftlichen Publikationen, die in Wahrheit von Mitarbeitern der Pharma-konzerne verfasst worden sind.

Schließlich werden wir uns ansehen, wie wir darauf reagieren können. Zwar kann ein gewissenhafter Arzt die Lügen, die in einer Marketingkampagne verbreitet werden, einfach ignorieren. Doch die Folgen gefälschter Befunde können jeden treffen. Die teuersten Ärzte der Welt können ihre Behandlung nur auf der Basis der Nachweise festlegen, die öffentlich verfügbar sind; da gibt es keine geheimen Schleichwege. Sind diese Nachweise aber gefälscht, werden wir alle ohne Not dem Risiko von Schmerzen, Leid und Tod ausgesetzt. Das gesamte System muss repariert werden, und um das zu erreichen, müssen wir alle an einem Strang ziehen.

* Goldacre, Ben: Die PharmaLüge. Wie Arzneimittelkonzerne Ärzte irreführen und Patienten schädigen. Kiepenheuer & Wisch, Köln 2013, 448 S., 19,99 Euro, ISBN: 978-3-462-04577-2

Dr. Ben Goldacre, Jahrgang 1974, ist Arzt und Medizinjournalist. Er studierte in Oxford und in London. Seine Kolumne „Bad Science“ (siehe auch Goldacres Blog www.badscience.net) im Guardian gilt als Kult. Sein Buch „Bad Science“ (dt.: „Die Wissenschaftslüge. Die pseudowissenschaftlichen Versprechungen von Medizin, Homöopathie, Pharma- und Kosmetikindustrie“) war ein Bestseller. Der vorliegende Titel ist die deutsche Übersetzung von „Bad Pharma“. Auch wenn sich der Text in der Regel auf die britische und US-amerikanische Realität bezieht, ist er für deutsche LeserInnen ein Gewinn. Im Vorwort zu diesem Buch schreibt Peter T. Sawicki, der ehemalige Leiter des Institutes für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG): „Es wäre sicher für alle besser, wenn das Buch, das Sie gerade in den Händen halten, im Originaltitel ‚Good Pharma‘ hieße. Besser für die Patienten, besser für die Gesundheitssysteme und auch besser für die Mitarbeiter der pharmazeutischen Industrie, die viel arbeiten, eigentlich Gutes wollen und unter dem schlechten Image ihrer Branche leiden. Aber das Buch heißt in der englischen Ausgabe zu Recht ‚Bad Pharma‘ – leider. Und das ist notwendig, damit wir irgendwann – vielleicht – eine Änderung der Missstände erleben. Es ist eines der besten Bücher zu dem Thema der letzten Jahrzehnte, in denen sich – wiederum ‚leider‘ – nicht viel auf diesem Gebiet geändert hat.“





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