FORUM PSYCHOSOMATIKZeitschrift für Psychosomatische MS-Forschung, 22. Jahrgang, 1. Halbjahr 2012 |
Anfang Februar 2012 wirkte ein junger Mann namens Ole in der Sendung „Deutschland sucht den Superstar“ mit. Ole berichtete Dieter Bohlen von seiner MS-Diagnose. Bohlen erzählte daraufhin seinen JurykollegInnen, Ole sei todkrank, MS sei die gruseligste aller Krankheiten, nach einem Abbau von Knochen- und Muskelmasse könne der betroffene Mensch nicht mehr atmen. – Wer sich mit MS etwas auskennt, weiß, dass das nicht stimmt. Dass die MS besser ist als ihr Ruf, schreibt Wolfgang Weihe seit Jahren in seinen Büchern. Aber woher kommt der schlechte Ruf der MS? Wir haben die Superstar-Sendung zum Anlass genommen, uns mit dieser Frage zu beschäftigen.
Darf ich fragen, weshalb Sie im Rollstuhl sitzen?“ Eine freundliche junge Ärztin stellte mir diese Frage, als ich kürzlich an einer Mammographie-Reihenuntersuchung teilnahm. Mit ihrer Reaktion auf meine ehrliche unbefangene Antwort, ich hätte MS, hatte ich nicht gerechnet: „Oh je, wie schrecklich!“ entfuhr es ihr und sie ergänzte rasch: „Das tut mir aber leid!“ Selten habe ich mich mit meiner MS so schlecht gefühlt.
Später habe ich über diesen Dialog nachgedacht und mich wieder einmal gefragt, was die Botschaft, jemand lebe mit der Krankheit „Multiple Sklerose“, bei den Menschen auslöst. Was verbindet man oder frau mit dieser Information, welchen Ruf hat die MS, welche Bilder zur MS spuken in den Köpfen der Menschen herum? Die Ärztin jedenfalls hätte kaum betroffener reagieren können, wenn ich ihr erzählt hätte, dass mein Leben in wenigen Tagen enden würde.
Tatsächlich lebe ich schon lange ganz gut mit der MS: Vor 35 Jahren erlebte ich erstmals MS-Symptome, sechs Jahre später wurde die Diagnose gestellt, seit über 25 Jahren nutze ich zur Fortbewegung einen Rollstuhl. Nach wie vor bin ich voll berufstätig, erfreue mich ansonsten bester Gesundheit und reise viel und gern durch dieWelt.
Natürlich kenne und kannte ich auch Menschen, die sehr unter ihren MS-Symptomen leiden, andere, die aufgrund der MS früh gestorben sind. MS kann für manche Menschen und ihre Angehörigen ein sehr hartes Schicksal bedeuten. Es liegt mir fern, diese Tatsache beschönigen zu wollen. Gleichzeitig kenne ich aber auch viele Menschen, die schon lange mit wenigen Beeinträchtigungen mit ihrer MS leben und kaum Einschränkungen ihrer Lebensqualität hinnehmen müssen.
Es ist ja bekannt, dass der MS-Verlauf individuell kaum vorhersehbar ist und es viele unterschiedliche Ausprägungen des Krankheitsbildes gibt. Nicht umsonst spricht man bei der MS auch von der „Krankheit mit den 1.000 Gesichtern“. Auf der Suche nach Gründen für das Erschrecken der Mitmenschen bei der Erwähnung von MS könnte eine These folgendermaßen lauten: Die Unabwägbarkeit hinsichtlich der Symptomatik und des weiteren Verlaufs der Krankheit MS ist dafür verantwortlich, dass viele Menschen mit MS ganz unspezifisch etwas Unheimliches, Grauenhaftes verbinden. Gegen diesen Erklärungsversuch spricht, dass auch die meisten anderen chronischen Erkrankungen individuell völlig unterschiedlich verlaufen, in der Regel mit zunehmenden Einschränkungen verbunden sind und keine sicheren Prognosen zum weiteren Verlauf möglich sind.
Eine weitere These geht in die deutsche Vergangenheit zurück: Das schlechte Image der MS hat mit dem Propaganda-Film für die Euthanasieprogramme der Nationalsozialisten zu tun. Der Film „Ich klage an“ von Wolfgang Liebeneiner wurde 1941 uraufgeführt. In dem Film tötet ein Arzt seine junge MS-betroffene Frau, nachdem er lange vergeblich ein Heilmittel gesucht hat. Die Frau hatte schon kurz nach der Diagnosestellung um Tötung im Falle einer Krankheitsverschlimmerung gebeten, weil sie „nicht zur Last“ fallen wollte. Gegen den Arzt beginnt ein Gerichtsprozess. Zeugen stellen die Tat als Gnadenakt und Erlösung der Frau dar, so dass letztlich der Arzt zum Ankläger wird. Im Film gibt es keinen Urteilsspruch. Die Zuschauenden sollten selbst zu dem Schluss kommen, dass es sich bei der Tötung von unheilbar kranken Menschen letztlich um einen Gnadenakt handelt.
Auch wenn es in dem Film genau genommen um „Tötung auf Verlangen“ geht, diente dieser preisgekrönte Film den NS-Behörden zur Rechtfertigung ihrer systematischen Vernichtung von chronisch kranken und behinderten Frauen, Männern und Kindern. Viele Menschen, die seinerzeit lebten und den Film gesehen haben, werden auch folgende implizite Filmbotschaft verinnerlicht haben: „Tot zu sein ist besser, als mit MS zu leben“. Wer mit dieser Überzeugung lebt, erschrickt natürlich bei der Konfrontation mit Menschen mit MS. Und möglicherweise übertragen sich solche Einstellungen durch Äußerungen über MS auf nachfolgende Generationen, ohne dass diese unbedingt den Film gesehen haben müssen.
Ich selbst benötigte bereits drei Jahre nach Diagnosestellung zur Fortbewegung einen Rollstuhl. Das war damals im Jahr 1986 für mich zunächst eine große Erleichterung: Ich wurde wieder schneller als zu Fuß mit Stützen, konnte wieder selber meine Einkäufe erledigen und mich problemlos mit FreundInnen verabreden, ohne auf einen Parkplatz unmittelbar am Treffpunkt angewiesen zu sein.
Gleichzeitig stellte ich fest, dass viele Mitmenschen sich gar nicht vorstellen konnten, mit Rollstuhl ein gutes Leben zu führen. Häufig bekam ich zu hören „Wie schrecklich: so jung und schon im Rollstuhl“ oder „Da wäre ich lieber tot“. Ich hatte ganz andere Probleme als die Tatsache, dass ich nicht mehr laufen konnte: Fehlende Rollstuhltoiletten erschwerten Unternehmungen; den öffentlichen Nahverkehr konnte ich größtenteils wegen mangelnder Barrierefreiheit nicht nutzen; der Zugang zu Kinos, Restaurants und Theatern blieb mir häufig versperrt. Erschwerend hinzu kam, dass ich als damals 30- jährige Frau plötzlich nicht mehr als Frau, sondern nur noch als Rollstuhl mit Inhalt, also als geschlechtsneutrales Wesen, wahrgenommen wurde. Alle diese Erfahrungen ließen mich behindertenpolitisch auf verschiedenen Ebenen aktiv werden.
Auch heute, mehr als ein Vierteljahrhundert später heißt es im Zusammenhang mit MS immer noch „das kann im Rollstuhl enden“. Wer so etwas sagt oder schreibt, weiß offensichtlich nicht, was ein Leben mit Rollstuhl bedeutet. Außerdem macht er oder sie den großen Fehler, den Rollstuhl als Horrorvision aufzubauen. Menschen mit MS, die ihn vielleicht irgendwann einmal benötigen, können den Rollstuhl dann oft nicht pragmatisch als Fortbewegungsmittel akzeptieren, sondern assoziieren ihn mit dem Ende eines lebenswerten Lebens.
So lautet meine dritte These, dass viele Menschen aus Unwissen über das Leben mit einer Behinderung angesichts eines Rollstuhl erschrecken. Das ist allerdings nicht MS-spezifisch, sondern betrifft alle Menschen, die einen Rollstuhl nutzen.
Oder: Von allem etwas
Vielleicht gibt es nicht die eine richtige Antwort auf die Frage, warum Menschen bei der Erwähnung der Diagnose „Multiple Sklerose“ oftmals zusammenzucken. Vielleicht handelt es sich wie bei der MS-Entstehung um ein multifaktorielles Geschehen: Vielleicht spielen alle erwähnten Faktoren bei verschiedenen Menschen in unterschiedlichem Ausmaß eine Rolle. Vielleicht gibt es auch noch weitere Komponenten. Wenn Sie, liebe Leserinnen und Leser, eigene Ideen zu dem Thema einbringen möchten, dann schreiben Sie uns doch. Ich bin gespannt auf eine anregende Debatte!
Zurück zu meinem Erlebnis bei der Mammographie: Als die Ärztin so erschrocken reagierte, bemühte ich mich reflexartig, ihr zu versichern, dass es mir doch wunderbar ginge und alles kein Problem sei. „Auch Blödsinn“, dachte ich später. Gleichzeitig habe ich mich gefragt, wie sie wohl reagiert hätte, wenn ich gesagt hätte, dass ich eine Muskeldystrophie habe oder querschnittgelähmt bin. Hätte sie dann erleichtert reagiert mit den Worten „Na, dann haben Sie ja noch einmal Glück gehabt“?
Si
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