FORUM PSYCHOSOMATIK

Zeitschrift für Psychosomatische MS-Forschung, 21. Jahrgang, 2. Halbjahr 2011





Auch in der europäischen Medizin ist Spiritualität keineswegs unbekannt. Wenn sich homöopathische Arzneimittel den Naturgesetzen (oberflächlich betrachtet) entziehen, wenn anthroposophische Mediziner die Bedeutung von Krankheiten für die Persönlichkeitsentwicklung hervorheben, wenn ein Pfarrer namens Kneipp die Immunkräfte des Leibes ganz unkonventionell und ohne Pharmaindustrie stimulierte, dann ist allen diesen Beispielen gemeinsam, dass sie die Formel „Körper plus x“ ernst nehmen. Hinzu kommen die Wirkungen des Zwischenmenschlichen (etwa bei einem vertrauensvollen Verhältnis zwischen Arzt und Patient), des Berührens („Behandelns“) und der Psyche des Kranken selbst.

Überzeugten Christen ist es durchaus vertraut, dass über wundersame Heilungen berichtet wird, dass Blinde wieder sehen und Lahme wieder gehen. Bis zum heutigen Tag sind in der katholischen Kirche Wunderheilungen ein Grund für Heiligsprechungen. Wallfahrtsorten wie Lourdes werden heilsame Wirkungen zugeschrieben. Und selbst in der rationalen Medizin gibt es unerklärliche Spontanheilungen von Todkranken. Sie geben Anlass zu vielen Fragen und sind Gegenstand von Forschungsarbeiten.

Seriöse Unterscheidung

„Die heilende Kraft von Religion und Glauben ist nach einem ersten Boom in der medizinischen Fachwelt der USA nun auch in Europa zum Thema geworden“, stellt Dr. Monika Renz fest. Als Psychotherapeutin und Theologin hat sie viele Sterbende begleitet und unterrichtet Mediziner an den Universitäten Zürich und Innsbruck. Medizin, Psychologie und Theologie sind dabei, Spiritualität und Religiosität stärker in den Heilungsprozess zu integrieren. Das gilt ganz besonders für den Umgang mit schwer Kranken und Sterbenden in den oft von den Kirchen getragenen Hospizen.

„Es gibt nach wie vor keine gesicherten Erkenntnisse darüber, dass Religiosität oder Spiritualität bei einer Krankheit tatsächlich zu einem längeren Überleben oder gar zu einer Heilung führen“, sagt Prof. Dr. med. Arnd Büssing, der sich als Professor an der Universität Witten/ Herdecke dem Thema Spiritualität und Krankheit widmet. „Aber der Glaube kann sehr wohl von ausschlaggebender Bedeutung dafür sein, wie ein Patient mit seiner Krankheit umgeht und sein Leben mit oder trotz der Bedrohung gestaltet.“

Ganzheitliche Medizin ist ein vielschichtiges Thema. Ohne ernsthaftes Bemühen um tieferes Verständnis von Körper, Geist und Seele geht es nicht. Aber Begriffe wie Spiritualität und Esoterik, oft missverstanden und missbraucht, sind auch für Sonderlinge, Scharlatane und andere Betrüger verlockend.

Es ist deshalb an der Zeit, Kriterien zu entwickeln, um seriöse von unseriösen Akteuren zu unterscheiden. Wer für Pluralität im Gesundheitswesen eintritt, sollte sich dieser Aufgabe stellen, denn klare Abgrenzungen sind notwendig. Wo die Gefahr besteht, dass Abhängigkeiten entstehen, ist eine Grenze zu ziehen. Wenn die Suche nach Heilung ausgenutzt wird, ist das unakzeptabel. Finanzielle Ausbeutung und die Gefahr psychischer Abhängigkeit unter dem Deckmantel der Spiritualität sind eindeutige Warnsignale.




Nachdruck aus SECURVITAL 05/2011



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