Stiftung LEBENSNERV,
FORUM PSYCHOSOMATIK 2/08

Vision und Realitäten einer sensiblen Medizin


Unter diesem Leitgedanken fand das 11. Symposium der Arbeitsgemeinschaft Psychosomatik und Neurologie (AGPN) am 12. – 13. Juli 2008 im St. Agatha-Krankenhaus in Köln statt.

Ingrid Wenzl / Mechthilde Kütemeyer

Sensible Medizin bedeutet ein der Wahrnehmung verpflichtetes ärztliches Vorgehen, das die Sprache und das Zuhören als zentrale Diagnostika einsetzt. Es bestand bei allen Referenten und Referentinnen Übereinstimmung darüber, dass sensible Medizin vor den aktiven, auf technischen Fortschritt setzenden medizinischen Bereichen nicht Halt machen darf und sich auch in der Chirurgie, der Unfallambulanz und auf der Intensivstation bewähren kann. Realisierungen dieser Vision wurden anhand verschiedener kommunikativer Diagnose- und Behandlungsansätze auf der Tagung vorgestellt.

Peter Krebs, Internist und ehemaliger ärztlicher Leiter des St. Agatha-Krankenhauses, zeichnete in seiner Einführung die bewegte Geschichte der Vision und Entstehung der Psychosomatischen Abteilung unter seiner Initiative nach, die über viele Jahre die Kultur einer zuhörenden und achtsamen Medizin im ganzen Haus wachsen ließ.


Das Alphabet der Affekte

Walter Schurig, derzeitiger Leiter der Psychosomatischen Abteilung, betonte den oft übersehenen engen Zusammenhang von Schmerz und Angst. „Bei Angst werden ähnliche Regionen des Gehirns wie bei der Schmerzentstehung aktiviert“, erklärte er. Oft reiche es, das jeweilige Gefühl zu benennen, um den Patienten zum Sprechen zu bringen, so Mechthilde Kütemeyer, seine Vorgängerin. Dafür müsse der Arzt aber das „affektive Alphabet“ erlernt haben, die klare Zuordnung bestimmter körperlicher Phänomene zu bestimmten Affekten/Gefühlen kennen.

Der Körper verbündet sich dabei nach erkennbaren festen Regeln mit den verschiedenen Affekten: Für die körperlichen Äquivalente der Angst ist eine Vielfalt wechselnder, oft anfallsartiger Beschwerden charakteristisch, überwiegend subjektive Empfindungsstörungen von unruhig bewegter Qualität („ es kribbelt…vibriert… wühlt … arbeitet“). Die depressiven Körpersymptome dagegen treten statisch und fortdauernd in Erscheinung. Schwindel gehört deshalb zur Angst und nicht zur Depression. So kann der Arzt, der Psychologe oder Psychotherapeut, auch wenn der Patient über sein Gefühl (noch) nicht sprechen kann, anhand der Körperbeschwerden seine emotionale Befindlichkeit deutlich erkennen und benennen.


Sprachanalyse als Schlüssel der Diagnose

Das Benennen der inneren Verfassung – vorbewusster Phantasien, Wünsche, Überzeugungen – ist auch der Angelpunkt der mentalisierungsbasierten Psychotherapie (MBT), über die Ulrich Schultz- Venrath einen eindrucksvollen Überblick vermittelte.

Redewendungen zeugen von einem Wissen um die ursprüngliche Bedeutung von Wörtern und den symbolischen Ausdrucksgehalt bestimmter Körperteile: Rückgrat beweisen, den Kopf hängen lassen, die kalte Schulter zeigen. Barbara Benoit, Gynäkologin und Psychotherapeutin, konnte anhand einer Sprachanalyse von 120 Unfallschilderungen zeigen, dass Unfälle in zugespitzten Lebenskonflikten auftreten und über die verletzten Körperteile als Inszenierungen dieser Konflikte zu verstehen sind. Die häufigen psychogenen (seelisch verursachten, d. Red.) Beschwerden, die nach Heilung der körperlichen Unfallverletzungen fortbestehen, lassen sich als somatisierte (über den Körper dargestellte, d. Red.) szenische Darstellungen der Konflikte fassen und bei rechtzeitiger Bearbeitung rascher mildern, womöglich vermeiden.

Dichter als Lehrmeister Eine zuhörende und sprechende Medizin braucht die Dichter – und Philosophen – als unersetzliche Lehrmeister. Karl Friedrich Masuhr, der Lehrbuchautor von „Neurologie“ Duale Reihe, benannte anhand der Biographien und Schriften zahlreicher Arzt- Dichter das familiäre und das politische Spannungsfeld, in dem sich Krankheit und die dazu gehörende Selbstreflexion befindet. Aus dem Gespräch des Arztes Gottfried Benn mit seiner Mutter können wir viel über Wunde, Schmerz, Herz, Mund und die Plötzlichkeit körperlicher Traumaerinnerung erfahren:



Mutter
Ich trage dich wie eine Wunde
Auf meiner Stirn, die sich
nicht schließt.
Sie schmerzt nicht immer. Und es
fließt
das Herz sich
nicht draus tot.
Nur manchmal plötzlich bin ich
blind
und spüre
Blut im Munde.

Gottfried Fischer, Gründer des Deutschen Instituts für Psychotraumatologie (DIPT) und Leiter des Instituts für Klinische Psychologie & Psychologische Diagnostik (IKPP) der Universität zu Köln, entwarf die Vision einer philosophisch begründeten Psychotherapiewissenschaft als eigenständiger Disziplin. Bereits vorhandene, aber widersprüchliche Theorien und Modelle gelte es dabei zu respektieren und zu integrieren, aber auch neue, der Psychotherapie als dialogischer Methode angemessene Prinzipien zu schaffen.

Die Darstellungen einer sensiblen Medizin und Neurologie, die vor der Übermacht bildgebender Verfahren und pharmakologischer Versprechen nicht in die Knie geht und innovative Erfahrungen vorzuweisen hat – die auch Berührungen mit der Poesie und Philosophie nicht scheut –, erzeugte auf dem Symposium eine zuversichtlich heitere Atmosphäre, die auch die Zuhörer zu anregenden Beiträgen ermunterte.

In der „Arbeitsgemeinschaft Psychosomatik und Neurologie“ (AGPN) haben sich seit 1997 niedergelassene sowie klinisch und wissenschaftlich tätige Neurolog/ inn/en – und andere Gesundheitsarbeiter/ innen im Bereich der Neurologie, Epileptologie und Psychosomatik – aus verschiedenen Städten zusammengeschlossen. Interessenten können sich bei den nachstehend angegebenen (mail-)Adressen anmelden,


Dr. med. Karl Friedrich Masuhr
post@masuhr.de
Dr. med. Mechthilde Kütemeyer
kuete@arcor.de




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