Stiftung LEBENSNERV, FORUM PSYCHOSOMATIK 2/08 |
Typisch sei der Fall eines Vaters,
dessen Kind an einer seltenen
Erkrankung litt, die zu einem
Abbau des Gehirns führte. Er lehnte
die Behandlung ab mit der Begründung,
dass ein Erfolg oder
gar eine Heilung nur dazu führe,
dass das Kind dann eine andere
Krankheit entwickle. Das Leiden
könne nur durch die Umkehr zu
Gott überwunden werden; eine
Meinung, die laut Aksu viele seiner
Patienten vertreten. Was der
Mensch tun könne sei: sich in Geduld
üben, beten, Gott um Hilfe
bitten, niemals „explodieren“.
Insgesamt sind Menschen mit
Migrationshintergrund nur unwesentlich
häufiger krank als andere
Bürger. Sie gehen auch nicht mehr
oder weniger oft zum Arzt. Laut
neuer Daten des Robert-Koch-Instituts
in Berlin haben sie jedoch
etwas häufiger Arbeitsunfälle.
Außerdem leiden Migranten aus
Osteuropa oder Afrika öfter an bestimmten
Infektionskrankheiten,
die sie aus ihren Herkunftsländern
mitgebracht haben, zum Beispiel
Tuberkulose oder HIV. Allerdings
sind Menschen ausländischer Herkunft
häufiger mit dem deutschen
Gesundheitssystem unzufrieden,
und zwar unabhängig davon, aus
welchem Land sie kommen. Das
liegt vor allem an mangelnder Aufklärung:
Migranten wissen oft
wenig über Abläufe und Angebote.
Die Folge ist, dass sie zum Beispiel
seltener die Krebsfrüherkennung,
die Schwangerschaftsvorsorge
oder Ernährungsberatung
nutzen. Zum Zahnarzt gehen sie
erst, wenn sie Schmerzen haben.
Auch Psycho- oder Verhaltenstherapien
nehmen Migranten kaum in
Anspruch. „Psychosomatische und
psychische Erkrankungen werden
in die Kategorie ‚geisteskrank’ eingestuft
und deshalb vehement abgewehrt“,
so Yavus Yildirim-Fahlbusch.
In vielen Kulturkreisen werden
jedoch nicht nur seelische Leiden
tabuisiert, sondern auch Behinderungen.
„Was haben wir nur gemacht?
Wer ist schuld? Warum
wir?“ haben sich Sevgi Kaya, 38,
und ihr Mann Niyazi, 43, immer
und immer wieder gefragt.
Warum hat Gott ihnen diese
Bürde auferlegt? Ihr Sohn Ohur,
14, hat eine geistige Behinderung.
Sevgi, die als junge Frau aus der
Türkei nach Deutschland kam,
sprach zunächst kein Wort
Deutsch, hatte keine Freunde. Ihr
Mann arbeitete von morgens früh
bis abends spät im Restaurant.
Und dann die Selbstvorwürfe und
diese Scham. „Wir haben viele
Jahre gehadert“, sagt Niyazi
Kaya. Auch die Familie und Bekannte
waren keine Hilfe. Die Reaktionen
waren mal verletzend,
mal leugneten sie die Behinderung.
„Gute Besserung!“ war ein
Satz wie ein Nadelstich.
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