Stiftung LEBENSNERV,
FORUM PSYCHOSOMATIK 2/07
Mikroebene = Arzt/Ärztin-PatientIn-Verhältnis

Im Verhältnis zwischen ÄrztInnen und Betroffenen ist die kommunikative Inkompetenz vieler MedizinerInnen ein entscheidendes Problem. Schon Kurt Tucholsky sagte über Ärzte: „Sie hören nicht zu“. Seitdem ist viel Zeit vergangen, geändert hat sich indes wenig: Eine neuere Studie hat ergeben, dass PatientInnen durchschnittlich nach 18 Sekunden von den ÄrztInnen unterbrochen werden. Hätte man sie ausreden lasse, hätte die ganze Geschichte im Schnitt 28,6 Sekunden gedauert.

Ein weiteres Problem im Kommunikationsverhalten von ÄrztInnen sind die von uns sogenannten „Killersätze“. Das sind Sätze wie „Kinderkriegen ist jetzt nicht mehr“ oder „MS ohne kognitive Einschränkungen gibt es nicht“, die MS-Betroffene mit der Diagnose oder danach von ihren ÄrztInnen hören. Als Stiftung LEBENSNERV haben wir dazu die Negativ-Auszeichnung „Destruktivin-Preis“ ausgeschrieben und 2005 die Ergebnisse bekannt gegeben.

Es gibt Ansätze, die Kommunikation zwischen Betroffenen und ÄrztInnen zu verbessern. Dazu gehört die Initiative „Patientenkompetenz“, die versucht, den Betroffenen durch Wissensvermittlung eine aktive Rolle in der Kommunikation mit ihren ÄrztInnen zu ermöglichen. Wir berichteten darüber in FORUM PSYCHOSOMATIK 2/2006. Näheres dazu ist zu finden unter
www.patientenkompetenz.org
oder
www.stiftung-patientenkompetenz.org

In diesen Zusammenhang gehört auch das Modell der Partizipativen Entscheidungsfindung (PEF). Das ist die deutsche Variante des „shared decision making – SDM“. Im Dialog kommen ÄrztInnen und PatientInnen zu einer gemeinsam verantworteten Übereinkunft über eine angemessene medizinische Behandlung (s.a. FORUM PSYCHOSOMATIK 2/2005). Die PEF ist ein Förderschwerpunkt des Bundesministeriums für Gesundheit (BMG). So wurden zwischen 2001 und 2004 zehn Projekte unter dem Thema „Patient als Partner im medizinischen Entscheidungsprozess“ gefördert, seit 2005 unterstützt das BMG die modellhafte Umsetzung. Auch hier bleibt es leider bei guten Ansätzen. Von einem Perspektivenwechsel kann solange keine Rede sein, solange die Betroffenen kaum an den Konzeptionen der Projekte beteiligt sind und Schulungen von Nicht-Betroffenen durchgeführt werden.


Aktuelle Entwicklungen und Konsequenzen

Die aktuellen Entwicklungen in der Gesundheitspolitik sind widersprüchlich: Einerseits wird die Salutogenese anerkannt, so dass ressourcenorientierte Projekte gefördert werden. Auch die PatientInnenbeteiligung beginnt, sich als zartes Pflänzchen zu etablieren. Andererseits wird im Rahmen der letzten Gesundheitsreform seit dem 1. April 2007 von den Betroffenen „therapiegerechtes“ Verhalten gefordert. Das heißt, wer nicht die Therapie einhält, die der Arzt oder die Ärztin verordnet hat, muss unter Umständen mit erhöhten Zuzahlungen rechnen. Das ist das Gegenteil von Partizipativer Entscheidungsfindung, so dass sich der Verdacht aufdrängt, dass der Politik des Bundesministeriums für Gesundheit die klare Linie fehlt.

Insgesamt ergeben sich aus den bisherigen Ausführungen verschiedene Forderungen beziehungsweise Handlungsaufträge:
• Es sollte ein neuer Begriff für „PatientIn“ gefunden werden.Dazu könnte beispielsweise ein Wettbewerb dienen.
• Eine geschlechtergerechte Sprache und geschlechtergerechte Strukturen sind im Gesundheitswesen anzustreben.
• Empowerment-Trainings sollten für die Betroffenen angeboten werden, um das Kohärenzgefühl zu erhöhen. Die Projekte sollten beforscht werden, um die optimalen Methoden zu ermitteln.
• Es müsste eine echte Betroffenenbeteiligung auf der politischen Ebene geben.
• Betroffene sollten als BeraterInnen in den Beratungsstellen der Unabhängigen Patientenberatung als Peer-CounselorInnen Beratung anbieten.
• Die kommunikativen Kompetenzen von ÄrztInnen sind zu erhöhen.
• Betroffene sollten als AkteurInnen bei Projekten zur Partizipativen Entscheidungsfindung mitwirken.
• Der Zwang zum „therapiegerechten“ Verhalten muss wieder aus dem Sozialgesetzbuch V (SGB V) gestrichen werden.

Das alles lässt sich meiner Ansicht nach nur verwirklichen, wenn die Betroffenen aktiv werden und auf den verschiedenen Ebenen einen Perspektivenwechsel im Gesundheitswesen verlangen. Schließlich wurde der Perspektivenwechsel im Behindertenbereich auch nur verwirklicht, weil die Betroffenen nicht müde wurden, ihre Rechte einzufordern. Entsprechend muss auch im Gesundheitswesen die Gleichberechtigung der Betroffenen auf allen Ebenen beansprucht werden. Über den Verhandlungen zur UNKonvention über die Rechte behinderter Menschen stand der Leitspruch „Nichts über uns ohne uns!“, an den sich auch die Regierungsdelegationen gehalten haben. Genau dieses Motto gilt es auch im Gesundheitswesen zu realisieren.

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