Stiftung LEBENSNERV,
FORUM PSYCHOSOMATIK 2/07
Der Perspektivenwechsel im Gesundheitswesen

Ein entsprechender Perspektivenwechsel steckt im Gesundheitswesen noch in den Kinderschuhen. Die Betroffenen werden überwiegend als Objekte wahrgenommen und behandelt und sind weit davon entfernt, als gleichberechtigte Subjekte gesehen zu werden und agieren zu können. Dafür verantwortlich sind sicherlich viele Faktoren, unter anderem die schlechte Kommunikation zwischen ÄrztInnen und PatientInnen und die Geduld der Betroffenen. Im Folgenden sollen verschiedene Dimensionen des Perspektivenwechsels im Gesundheitswesen näher betrachtet werden.


Die begriffliche Dimension

Die Rede ist von „dem Patienten“. Wie ich bereits im Editorial von FORUM PSYCHOSOMATIK 2/06 ausführte, stammt der Begriff „Patient“ sprachgeschichtlich von dem lateinischen Verb pati (= leiden, ertragen). Auch das griechische Wort pathos (= Unglück, Affekt) ist in diesem Zusammenhang zu nennen. Der/die PatientIn ist also der/die Leidende, der/die Ertragende, der/die Erduldende. Allein dieser Begriff verhindert also die Realisierung des Perspektivenwechsels, denn jemand der „Patient“ heißt, also leidet und erduldet, kann nicht gleichberechtigt mit den anderen AkteurInnen im Gesundheitswesen kommunizieren.

Zu der begrifflichen Dimension gehören auch die Genderaspekte. Wenn von „dem Patienten“ gesprochen wird, werden Frauen nicht mit genannt, oft nicht mitgedacht, vielfach vergessen. Das ganze Gesundheitswesen ist außerdem dort, wo es um Machtund Entscheidungspositionen geht, sehr männerdominiert. Hier gilt es von Seiten der Betroffenen und der Nicht-Betroffenen, Machtstrukturen zu hinterfragen und zu verändern.


Die inhaltliche Dimension:
Salutogenese

Die Theorie der Salutogenese wurde von dem Medizinsoziologen Aaron Antonovsky begründet (s.a. FORUM PSYCHOSOMATIK 2/2004). Antonovsky wurde 1923 in Brooklyn in der USA geboren, emigrierte 1960 nach Israel und entwickelte dort in den 70er und 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts seine Theorie, der seine Frau den Namen „Salutogenese“ gab. Antonovsky ist 1994 gestorben. Deutsche Übersetzungen seinesWerkes gibt es erst seit 1997, weshalb das salutogenetische Denken wohl erst allmählich im deutschen Gesundheitswesen ankommt.

In den 1970er Jahren war Antonovsky in Israel verantwortlich für eine Studie über Frauen in den Wechseljahren. Dabei waren auch Frauen, die das KZ überlebt hatten. Insgesamt stellte Antonovsky bei ihnen zwar eine stärkere gesundheitliche Belastung fest als bei anderen Frauen, zu seinem Erstaunen verfügten aber rund 30 Prozent der ehemaligen KZ-Häftlinge über eine gute psychische Gesundheit. Antonovsky fragte sich, warum diese Frauen gesund blieben. Verallgemeinernd stellte er anschließend die Frage „Was erhält Menschen gesund?“

In seiner Theorie vergleicht Antonovsky das Leben mit einem Fluss. Der Fluss hat, genau wie jedes Leben, neben ruhigen Abschnitten auch Stromschnellen, Untiefen, Strudel und wird manchmal zu einem reißenden Strom. Nach Antonovsky werden in der traditionellen Medizin Menschen mit großem Aufwand aus dem reißenden Strom gerettet. Da jeder Mensch den reißenden Strom bewältigen muss, fragt Antonovsky danach, wie man ein guter Schwimmer wird.

Mit dieser Fragestellung und der Salutogenese begründet Antonovsky einen inhaltlichen Perspektivenwechsel: Die Pathogenese der etablierten Medizin beschäftigt sich mit der Entstehung von Krankheiten. Die Salutogenese hingegen erforscht die Entstehung von Gesundheit. So fragt die Pathogenese „Was macht Menschen krank?“ „Was geht nicht?“ „Welche Risikofaktoren gibt es?“ Die Salutogenese aber beschäftigt sich mit den Fragen „Was erhält Menschen gesund?“ „Was geht?“ „Welche Ressourcen gibt es?“ Während die Pathogenese also eher dem defizitorientierten Denken verhaftet ist, konzentriert sich die Salutogenese auf die Kompetenzen und Ressourcen der Menschen. Die Salutogenese will die traditionelle Medizin nicht ersetzen. Sie ist quasi das Gegenmodell zur Pathogenese, eine Perspektive, die bislang fehlte.

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