Stiftung LEBENSNERV,
FORUM PSYCHOSOMATIK 1/07

Forschung aktuell
Erfahrungsinstrument Körper, Stigma und MS



Diskussion (Auszüge)

Wir haben in dieser Studie vorgeschlagen, die Wahrnehmung eines „Makels“ als eine Dimension von Stigma zu verstehen, das als „ver-körperte“ Bedeutung erfahren wird. Wir schlagen weiter vor, dass der kranke Körper nicht nur als ein biologischer Organismus mit einer Funktionseinschränkung zu verstehen ist. Der Körper ist ebenfalls das „Zentrum der Aufmerksamkeit“ und das Mittel von Ausdruck und Wissen. Wenn man sich also mit sozialem Ausschluss oder Einschluss befasst, so plädieren wir dafür, die Barrieren, die geschädigte Menschen jeden Tag in ihren Interaktionen erleben, mit zum sozialen Modell von Behinderung und zum Verständnis von „strukturellen Barrieren“ hinzuzufügen. Es wird von uns vorgeschlagen, dass das Konzept der Ver-Körperung von Stigma eine theoretische Sichtweise auf die vielschichtige Definition einer Situation beinhalten kann, in der eine körperliche Darstellung interpretiert wird. Der Informant, der Witze machte über seine angebliche Trunkenheit, nutzte diesen Witz als Ressource, um die Kontrolle über die Situation zu behalten. Im Gegensatz dazu wurde die Informantin, die unfreiwillig vom Türsteher als „betrunken“ bezeichnet und abgewiesen wurde, sozial abgewertet.
Die Kontrolle zu behalten über das Selbst und die Identität, über den Prozess und die Situation durch eine „Darstellung“, scheint dabei zentral zu sein für die Bestimmung dessen, was als positiv oder negativ oder als richtig oder falsch anzusehen ist.
Wir haben in dieser Studie die strategischen und taktischen Bewegungen von Menschen beschrieben, die versuchen, ihre MS im eingeschränkten Zusammenhang von Arbeit und gegenüber Fremden zu „bewältigen“. Wir haben nur wenig die konfliktbeladenen Situationen in der Familie untersucht. Weitere Forschung wird also erforderlich sein, um die Prozesse von Stigma und Ausschluss, die sich in der Interaktion ereignen, in einem größeren Zusammenhang zu erforschen

Literatur

Grytten,N., Maseide, P.: „What is expressed is not always what is felt“. Coping with stigma and the embodiment of perceived illegitimacy of multiple sclerosis. Chronic Illn. (2005) 1, 231-243
(dort sind auch die umfangreichen Literaturangaben zu diesem Artikel zu finden.)

wikipedia.org

Goffmann, Erving: Stigma. Notes on the management of spoiledidentity.
NJ: Prentice-Hall, 1963

Maja Storch, Benita Cantieni, Gerald Hüther, Wolfgang Tschacher:
Embodiment. Die Wechselwirkung zwischen Körper und Psyche verstehen und nutzen.
Hans Huber Verlag, Bern 2006


Diese vorangegangene Veröffentlichung aus dem Jahr 2005 beleuchtet die individuellen Coping-Strategien. Eine weitere Veröffentlichung aus dem Jahr 2006, die auf der gleichen Gruppe von TeilnehmerInnen beruht, befasst sich mit der Erfahrung von MS in sozialen Beziehungen und wird in der Ausgabe 2/2007 vorgestellt:

Grytten,N., Maseide, P.:
„When I am together with them, I feel more ill“. The stigma of multiple sclerosis experienced in social
relationships.
Chronic Illn. (2006) 2,195-208


Kontakt nina.grytten@helse-bergen.no


Kommentar zum
vorliegenden Text


Ist das nicht eigentlich ein „alter Hut“, dass sich Menschen der Situation entsprechend verhalten, besonders
wenn man MS hat und sich überlegt, ob man es dem Arbeitgeber sagen soll? Was sagt der Artikel denn an Neuem aus?
Aus meiner Sicht sind es drei Punkte, die ihn beachtenswert machen: 1. Die Einführung der klassischen
Stigma-Theorie nach Goffmann in der Frage der Krankheitsverarbeitung bei MS, die bislang in der Coping-Forschung bei MS nicht diskutiert wurde. Damit verbunden wird das Thema, wie mit der „Ver-Körperung“ eines erlebten
Makels (dem unkontrollierbaren Körper) umgegangen wird. 2. Die Unterscheidung von einer relativ feststehenden „medizinischen Identität“ und einer je nach Situation stets neu konstruierten „sozialen Identität“, die dazu
dient, die Kontrolle über eine Situation zu erhalten. 3. Die Erweiterung des sozialen Modells von „Behinderung“ um
die Dimension der Interaktionen. In den zwischenmenschlichen Beziehungen und alltäglichen Begegnungen wird das Etikett „Behinderung“ erst hergestellt oder auch nicht.
Darüber hinaus finde ich es äußerst spannend, dass in der offiziellen MS-Szene in Norwegen solche Forschungsarbeiten durchgeführt werden. Dies wünsche ich mir auch in Deutschland, womit aber in absehbarer Zeit (siehe Editorial)
wohl kaum zu rechnen ist.



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