Stiftung LEBENSNERV,
FORUM PSYCHOSOMATIK 1/07

Forschung aktuell
Erfahrungsinstrument Körper, Stigma und MS



Methoden (Auszüge)
Diese Studie umfasste 14 TeilnehmerInnen (TN): acht Menschen mit MS und sechs Angehörige. Drei der Angehörigen waren die Mütter, zwei Partner waren weiblich und ein Partner war männlich. Das Alter der TN schwankte zwischen 33 und 60 Jahren, im Mittel 51 Jahre. Die lokale MS-Gesellschaft stellte fünf TN, eine MSGruppe stellte vier TN und über ihre ÄrztInnen kamen weitere fünf TN. Vier der Personen mit MS waren Männer und ein Angehöriger war ein Mann, vier der Personen mit MS und fünf Angehörige waren Frauen. Im Mittel war bei ihnen seit 25 Jahren eine MS diagnostiziert. Vier der Personen mit MS hatten unsichtbare Symptome und vier hatten sichtbare Zeichen der Erkrankung. Sechs hatten den schubförmigen und zwei den chronisch progredienten Verlauf. Alle TeilnehmerInnen der Studie, bis auf ein Paar, das seine Mitgliedschaft zurückgezogen hatte, waren Mitglieder der MS-Gesellschaft.
Ein Interviewer führte unstrukturierte Tiefeninterviews mit offenen Fragen durch. Obgleich die Interviews die Lebensgeschichten der Menschen mit MS darstellen sollten, waren sie auch darauf gerichtet, die Interpretation der eigenen Symptome, den Zugang zu einer angemessenen medizinischen Versorgung oder der Diagnosestellung zu erfahren. Beispiele solcher Fragen sind etwa „Wie beeinflusst deine Krankheit dein Alltagsleben?“, „Ist es dir wichtig, deine Symptome zu verbergen?“ oder „Wie haben andere Personen auf die Diagnosestellung reagiert?“ Diese Interviews von etwa ein- bis zweistündiger Dauer wurden in den Jahren 2001-2003 durchgeführt und aufgezeichnet.
Die Studie basiert auf der Methode des „Symbolischen Interaktionismus“ und der Annahme, dass eine „Bedeutung“ in der Interaktion mit anderen konstruiert wird. Weiterhin wird angenommen, dass man den Coping-Prozess ambesten verstehen kann, wenn man eine subjektive Sichtweise einnimmt: wie Menschen MS erleben und wie PatientInnen sich darauf einstellen.

Ergebnisse (Auszüge)
„Ich sagte ihm, dass das, was ausgedrückt wird, nicht immer das ist, was man fühlt...Er konnte nicht wirklich verstehen, was MS ist“. Hier beschreibt die weibliche Informantin mit MS, wie sie ein Familienmitglied zurechtwies, das sie beschuldigte, Wohlfahrtsleistungen in Anspruch zu nehmen, obwohl sie gar nicht dazu berechtigt sei. Sie verwies auf den Makel der MS und das Stigma, das auf der Wahrnehmung ihrer körperlichen Erscheinung basiert.
Die weiteren Ergebnisse machten deutlich, dass das vorherrschende Motiv hinter der Aufdeckung oder Verheimlichung von MS die Gegenreaktion zu abwertender Erfahrung in Begegnungen ist. Wenn die Behinderung gezeigt wird, signalisieren Menschen mit MS ihre Vollständigkeit, indem sie die Situation kontrollieren und beanspruchen, ernst genommen zu werden.

Aufdecken
„Es fühlte sich gut an, die Krücken zu benutzen... Es war dadurch klar, dass etwas nicht stimmte, dass ich krank war“. Auf diese Weise beschrieb ein junger Mann die Annehmlichkeiten der Aufdeckung seiner MS. Er ist sehr wählerisch in Bezug auf Situationen, in denen er seine MS aufdeckt und verweist auf den Umstand, dass ihm wichtig ist, einen Eindruck seiner Selbst in sozialen Situationen zu kommunizieren. Menschen mit MS wählen ebenfalls den Weg der Aufdeckung, um Diskriminierungen zu begegnen, um erwarteten Übergriffen von anderen zu begegnen: „Als ich meinen Partner zum ersten Mal getroffen habe, sagte ich ihm zuerst ¸Sorry, ich habe MS´ ... Ich wollte, dass alle über die Diagnose Bescheid wissen, sonst hätten sie vielleicht geglaubt, ich sei betrunken.“


Verheimlichen

Wenn die MS in Zusammenhang mit der Arbeit verheimlicht wird, so geschieht das auf Grund von anderen Überlegungen, als eine vollständige Version seines Selbst zu präsentieren. Ein 60 Jahre alter Informant mit 20 Jahren Erfahrung damit, seine MS zu verstecken, deckt die Gründe für sein Geheimnis auf: „Ich wäre etikettiert worden, nicht kompetent genug, um draußen auf der See zu arbeiten.“ Der Informant betont, dass die Furcht davor, in Zweifel gezogen, nicht mehr respektiert und herabgewürdigt zu werden, das Motiv für das Verschweigen seiner Krankheit ist.
Jedoch hat das Verschweigen der Erkrankung auch zweifelhafteKonsequenzen: Auf der einen Seite erhält er weiterhin die Unterstützung und den Respekt seiner Freunde, jedoch seine Frau spricht über die soziale Isolation, weil das Verschweigen der MS neue Bekanntschaften schwer macht. Sie verweist auch darauf, wie das Verschweigen ihre Lebenswelten trennt, ´dass wir gelegentlich Seite an Seite aneinander vorbei leben`. Sie klagt darüber, dass die ´Konkurrenz` zu seiner MS sie vom ihm gefühlsmäßig isoliert, da sie darum wetteifern, ´wer der Kränkeste ist` und dass sie ihre eigenen Bedürfnisse nicht leben kann.
Die unterschiedlichen Sichtweisen von MS verweisen auf konfliktreiche Familien-Szenarien. Die Version der Person mit MS dominiert in der Familie, da er oder sie die Vorstellung in der Öffentlichkeit diktiert. So kommt es zur ironischen Konsequenz, dass die Verheimlichung der MS dazu führt, dass sie im Privatbereich vorherrscht.

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