Stiftung LEBENSNERV,
FORUM PSYCHOSOMATIK 2/06




Hippokrates (460–375 v. Chr.):

Vis medicatrix naturae (die natürlichen Heilkräfte).
Der Naturbegriff bezieht sich hier, wie auch in den meisten späteren Strömungen der Naturheilkunde nicht so sehr auf die Natur als Umwelt des Menschen, sondern auf die Natur des Menschen selbst7.


Mittelalter:
medicus curat, natura sanat

oder in der Sprache von Patienten: der äußere Arzt behandelt, der innere Arzt heilt.


Paracelsus (1493–1541):
Die Kraft des Arztes liegt im Patienten.

Karl Jaspers (1883 - 1969):
Der Patient braucht die Freiheit, die medizinische Ordnung zu durchbrechen.

Heinrich Schipperges (1918–2003):

Die Medizin wird eine Kulturwissenschaft sein – oder sie wird nicht sein.Der Mensch wird hier als Kulturgebilde verstanden und nicht nur als Naturgebilde, worauf die epochale Formulierung hinweist: Die Medizin wird eine Naturwissenschaft sein, oder sie wird nicht sein Bernhard Naunyn (1839–1925).

Zur Bestimmung des Begriffs Patientenkompetenz muss schließlich noch die Abgrenzung zu verwandten Begriffen vorgenommen werden, auf denen die Patientenkompetenz aufbaut. Auch hier wieder ein Blick auf die kurze Geschichte der Begriffsbildungen:


1960: Der bevormundete Patient: In der Blütezeit des ärztlichen Patriarchats erfolgt keine Information über die Diagnose. Der Patient ist absolutes Passivmitglied in Medizin und Gesundheitswesen.

1970: Der informierte Patient: Aus den USA kommt der Begriff des informed consent zu uns. Der Patient hat den medizinischen Maßnahmen zuzustimmen. Allerdings spielen auch beim informed consent die Rechtsansprüche des Patienten noch eine untergeordnete Rolle. Es geht in erster Linie um Rechtsschutz des Arztes.

1980: Der mündige Patient: Jetzt hat die Diskussion über die eigentlichen Patientenrechte begonnen. Es entstehen vermehrt Rechtsund Verbraucherschutzorganisationen von und für Patienten. Vor allem wird das Mitspracherecht des Patienten in seinen eigenen Angelegenheiten thematisiert.

1990: Der autonome Patient: Vom Mitspracherecht zur Mitsprachepraxis in den Modellen des shared decision making. Man redet vom Patienten als gleichberechtigtem Partner im Behandlungsvertrag.

2000: Der kompetente Patient: Aufbauend auf den früheren Begriffen vom informierten, mündigen, autonomen Patienten findet jetzt eine bedeutende Ausweitung des Rollenverständnisses von Patienten statt.

Es ging bei den früheren Begriffen nämlich zentral um das Verhältnis des Patienten zu seinem Umfeld, also zum Arzt, Apotheker, Betreuer, zum Recht, zur Krankenkasse, zur Sozialversicherung. Der jetzige Begriff Patientenkompetenz fügt das Verhältnis des Patienten zu sich und zu seiner Erkrankung hinzu. Und so zentrieren die Fragen kompetenter Patienten auch um sie selbst.2


Patientenkompetenz, Patientendenkstile und komplementäre Erlebniswelten

Kompetente Patienten sind an ganz bestimmten Fragen zu erkennen, die sie sich und ihren Beratern heute immer häufiger stellen. Im Falle von Krebserkrankungen lauten diese Fragen



Diese Fragen hängen mit einem, bei fast allen Krebspatienten anzutreffenden Denkstil zur Entstehung und Natur der Krebserkrankung zusammen. Wir reden in diesem Zusammenhang vom naturheilkundlichen Denkstil.8

Gemäß dem naturheilkundlichen Denkstil wächst Krebs nicht autonom, sondern in Abhängigkeit von körpereigenen Abwehrvorgängen. Die schulmedizinische, auf die Eliminierung der Krebszellen abzielende Tumortherapie wird als notwendig, aber in ihrer Ausschließlichkeit nicht als hinreichend für die Bewältigung der Krebserkrankung angesehen. Sie sollte ergänzt werden durch komplementäre Therapien, deren wichtigster Zweck es ist, die körpereigene Abwehr zu stärken. In völlig logischer Übereinstimmung mit diesem Denkstil sind auch fast alle kompetenten Krebspatienten der Überzeugung, dass die Bewältigung der Krebserkrankung, der Krankheitsverlauf, die Prognose und Heilungschance nicht nur von der Medizin, sondern auch vom Patienten, seiner Kompetenz, Selbstregulation und Selbsthilfe abhängen.2 Man nennt diese Abhängigkeit von Patientenkompetenz und Prognose die prognostische Relevanz der Patientenkompetenz.

Dem naturheilkundlichen Denkstil steht in unserer Gesellschaft ein wesentlicher zweiter, nämlich der naturwissenschaftliche gegenüber.

Gemäß naturwissenschaftlichem Denkstil, den vor allem Mediziner, Forscher und Pharmaangehörige vertreten, wird Krebs primär auf molekularbiologischer Ebene als dysreguliertes Zellwachstum mit ausgeprägter Wachstumsautonomie aufgefasst. Die Krebsprognose steht und fällt mit dem Erfolg des Versuchs, die Krebszelle selbst zu eliminieren oder sie an der Vermehrung zu hindern. Diesen Zweck erfüllen die Verfahren der Chirurgie, Strahlentherapie und medikamentösen Krebstherapie. Intrinsische Heilkräfte des Patienten selbst werden entweder grundsätzlich negiert oder, wenn anerkannt, als irrelevant bezüglich des Krebsverlaufs eingeschätzt.

Weil Arzt und Patient unterschiedlichen Denkmustern folgen, kann es auch zu folgendem, von Patienten viel beklagtem Dialog kommen9:
Arzt: Die Therapie ist abgeschlossen. Das ist im Moment alles, was ich für Sie tun kann. Kommen Sie wieder in einem halben Jahr zur Nachsorge.
Patient: Und was kann ich jetzt selbst noch tun, wie kann ich mein Leben ändern?
Arzt: Sie können gar nichts tun, leben Sie so weiter wie vorher.
Patient: Aber weil ich vorher so und so gelebt habe, bin ich doch krank geworden – und jetzt soll ich weiter so leben, dann muss es doch wieder kommen.
Dieser Dialog ist nur dann möglich, wenn beide Denkstile als Gegensätze aufgefasst werden. In Tat und Wahrheit sind sie jedoch komplementär (sich ergänzend, d.Red.).

Arzt und Patient erleben und interpretieren die Krankheiten aus unterschiedlichen Perspektiven. Im Denken der beiden sind andere Dinge wesentlich. Hier ist es zum Beispiel der therapeutische Auftrag, dort Betroffenheit. Beide Einstellungen zur Krankheit und die daraus gezogenen unterschiedlichen Konsequenzen sind aus der jeweiligen Sicht richtig, richtig, aber auch einseitig. Anders ausgedrückt, Arzt und Patienten erkennen und vertreten unterschiedliche, einander ergänzende Wirklichkeiten. Es gibt Wirklichkeiten, die sich mit einem (Hervorhebung durch die Redaktion) Erklärungsmodell nicht hinreichend beschreiben lassen. Denken wir an das Licht, das sowohl Teilchen ist als auch Welle. Wir reden von komplementären Wirklichkeiten.

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