Stiftung LEBENSNERV,
FORUM PSYCHOSOMATIK 2/06


Patientenkompetenz – eine neue Qualität
im medizinischen System



von Gerd Nagel


Die Kraft des Arztes (und des Apothekers) liegt im Patienten“
Nach Paracelsus (1493 –1541)




FORUM PSYCHOSOMATIK möchte nachstehend den neuen Begriff der „Patientenkompetenz“ vorstellen und dokumentiert dazu einen Vortrag von Prof. Dr. Gerd Nagel anlässlich eines Apotheker - Symposiums zu Patientensicherheit und Medikationsfehler auf der Medica, Düsseldorf 26. November 2004. Nagel ist auch Vorsitzender der Stiftung Patientenkompetenz Schweiz.



Es mag zunächst verwundern, dass an diesem Apotheker-Symposium über Patientensicherheit und Medikationsfehler ein Arzt über kompetente Patienten spricht. Aber vergessen wir nicht: Am Ende der Kette derer, die sich um die Arzneimittelsicherheit bemühen, steht der Patient. Die Bestrebungen Ihres Deutschen Netzwerks Unit-Dose e. V.* um eine Verbesserung der Qualität der Arzneimittelversorgung auf der Ebene der Ärzte und Apotheker sind selbstverständlich vorbildlich und notwendig. Sie wird aber erst abgerundet, wenn sich dieses neue Qualitätsbewusstsein auf der Ebene der Patienten fortsetzt.

Dabei wird erst bei näherer Betrachtung klar, dass es im Zusammenhang mit Fragen der Arzneimittelsicherheit allzu einfach wäre, die Bedeutung des Patienten auf die Compliance desselben zu reduzieren. Dies mag zwar auch heute noch für viele Patienten im traditionellen Rollenverständnis zulässig sein, nicht aber, wenn wir über kompetente Patienten reden. So bitte ich Sie, mein Auftreten hier als Advokat der Patientenkompetenz als einen Appell zu verstehen, in Ihre Planungen immer auch den kompetenten, mitgestaltenden Patienten einzubeziehen. Dieser ist ein weiterer Erfolgsgarant Ihrer Bestrebungen, denn man könnte in Abwandlung des Paracelsuswortes sagen: die Kraft des Apothekers liegt im Kunden.

Einleitend werde ich skizzieren, wie weitreichend Patientenkompetenz, von der Compliance abgesehen, mit der Qualitätssicherung der Arzneimittelversorgung zu tun hat. Dann werde ich versuchen, Begriffe, Inhalte und Äußerungsformen der Patientenkompetenz zu beschreiben. Schließlich werde ich auf Konsequenzen eingehen, die sich aus dem sich wandelnden Rollenverständnis des modernen Patienten ergeben.


Vom Tod der Kraniche – Patientenkompetenz und Arzneimittelsicherheit

Ich kann kaum besser beschreiben, um was es hier geht, als mit der folgenden Anekdote: Es war im Jahr 1964. Ich war damals in den ersten Lehrjahren zum Internisten am Kantonsspital Basel. Der wunderschöne Spitalgarten mit seinen herrlichen Bäumen, gepflegten Grünflächen, spätzchenzwitschernden Gebüschen, Wasserinseln und farbigen Rabatten strahlte eine geradezu heilsame Kraft aus, die bis in die Krankenzimmer hinein zu spüren war. Und doch trübten immer wieder traurige Ereignisse die friedliche Idylle.

Von Zeit zu Zeit und gelegentlich in auffälligen Häufungen kam es nämlich zu unerwarteten Todesfällen bei den im Spitalgarten frei herumlaufenden Kranichen, Flamingos und Wasservögeln. Da Internisten gute Diagnostiker sein müssen, die meisten Diagnosen aber vom Pathologen gestellt werden, war besonders dieses bewährte Medizinerteam bei der detektivischen Aufklärung des mysteriösen Vogelsterbens gefordert.

Das Ergebnis der Autopsien unserer gefiederten Freunde: sie waren an Arzneimittelvergiftungen verstorben. Die Arzneimittel wurden vom Arzt verordnet, von der Spitalapotheke geliefert, von der Stationsschwester abgezählt und den Patienten hingestellt – selbstverständlich alles sehr sorgfältig, akribisch, mit helvetischer Gründlichkeit qualitätskontrolliert – und dann von Patienten aus dem Fenster in den Spitalgarten geworfen, wo sie vom Endverbraucher aufgepickt wurden.

In späteren Jahren und besonders als Hauptverantwortlicher für den ordnungsgemäßen Betrieb der Klinik für Tumorbiologie Freiburg patrouillierte ich regelmäßig die Anlagen unterhalb der Patientenzimmer ab. In den Jahren 1993 – 2003 konnte ich dort nie irgendwelche Medikamentenspuren entdecken.

Wahrscheinlich hat sich über die Jahre bereits viel geändert. Vielleicht auch die Methode von Patienten, ungeliebte Arzneimittel zu entsorgen. Sicher aber unser Bestreben, Patienten besser in die Zusammenhänge, Abläufe und Ziele der Medizin einzubinden. Geändert hat sich auch unser Verständnis vom Begriff Compliance. Früher übersetzten wir dieses Wort mit Patientengehorsam, Fügsamkeit, Willfährigkeit. Heute reden wir von einsichtigem Mitmachen, Kooperationsbereitschaft, Vertragstreue. Und so hat sich auch die Rolle in der Arzneimittelversorgung geändert. Kompetente Patienten übernehmen dabei sehr viel Mitverantwortung.


Kompetente Patienten



Non-Compliance von Arzt und Apotheker mit dem kompetenten Patienten hat leider oft zur Folge, dass sich neben der medizinischpharmazeutischen Welt eine zweite Welt der paramedizinischen Nebenmedikation entfaltet, von der Arzt und Apotheker nichts erfahren und die allen Bemühungen um die Verbesserung der Qualität der medizinisch-pharmazeutischen Arzneimittelversorgung entgegenläuft. So sollte Patientenkompetenz schließlich auch darin bestehen, eine derartige Non-Compliance des medizinischpharmazeutischen Personals nicht zuzulassen und auf diese Weise zur Verbesserung der Patientensicherheit und Vermeidung von Medikationsfehlern beizutragen.

Mit meinen folgenden Ausführungen verfolge ich nun nur noch ein einziges Ziel: ich möchte Sie noch besser damit vertraut machen, was Patientenkompetenz eigentlich ist und Sie noch mehr motivieren, über die Verknüpfung Ihrer medizinisch-pharmazeutischen mit der Patienten-Welt nachzudenken.



Was ist unter Patientenkompetenz genau zu verstehen? Eine Begriffsbestimmung

Der Begriff Patientenkompetenz stammt aus der Sprachwelt von Patienten des 21. Jahrhunderts. Zur öffentlichen Wahrnehmung des Begriffes kam es erstmals im Jahr 2001, als eine Ausgabe der Zeitschrift „Brückenschlag“ vollumfänglich diesem Thema gewidmet wurde.1

Wie unsere Umfrage bei über 2500 Personen ergeben hat, gibt es heute noch keine allgemein verbindliche Definition des Begriffs Patientenkompetenz.2 Auch in die medizinische Fachliteratur ist dieser Begriff noch nicht eingegangen. Er fehlt entsprechend auch in der aktuellsten Klassifikation der Begriffe des Patientenverhaltens.3

Im wesentlichen stehen sich zurzeit zwei Begriffsbestimmungen von Patientenkompetenz gegenüber. Die eine dieser Definitionen stammt aus der Medizin und Psychologie, also aus der Fachwelt und Wissenschaft.4 Sie lautet:




Die zweite dieser Beschreibungen von Patientenkompetenz stammt von Patienten selbst 5:


Patientenkompetenz ist die Fähigkeit und das Bestreben eines Patienten, den eigenen Weg in der Krankheit zu gehen und aus eigenen Kräften zur Verbesserung des Krankheitsverlaufs beizutragen.


Von zentraler Bedeutung für das Verständnis dessen, was Patientenkompetenz bedeutet, ist die populäre Grundvorstellung, dass die Bewältigung einer Erkrankung von zwei Ärzten abhängt. Der eine Arzt ist der äußere, der Dr. med. mit seinen Möglichkeiten, die Krankheit zu therapieren. Der andere Arzt ist der innere, das Potential der Selbstheilung von Patienten.

An dieser Stelle soll nicht vertieft werden, dass und warum die Vorstellung vom kompetenten Patienten als einem selbstverständlichen Mitproduzenten von Gesundheit und Genesung in der Akutmedizin des 20. Jahrhunderts so gut wie keine Rolle spielt. Erst mit dem Salutogenesemodell von Antonovsky wird diese Vorstellung von den intrinsischen (von innen her kommenden, d. Red.) Lebens- und Überlebenskräften der Medizin wieder bewusst gemacht – bis heute allerdings mit nur spärlichen Konsequenzen für die medizinische Ausbildung und Lehre 6. Wenn der Begriff der Patientenkompetenz als Worthülse auch neu ist, so ist deren Inhalt ein alter.


Hier einige Beispiele dazu:




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