Stiftung LEBENSNERV,
FORUM PSYCHOSOMATIK 2/04
Zentraler Begriff:
Kohärenzgefühl


Der zentrale Begriff bei Aaron Antonovsky ist das Kohärenzgefühl (sense of coherence, SOC): es beschreibt, wie ein Phänomen der Widerstandsressource wirkt. Das Kohärenzgefühl soll dazu verhelfen, dass die Welt es wert ist, dass man sich trotz seines Leidens in ihr engagiert. Das Kohärenzgefühl beschreibt: „eine globale Orientierung, die das Maß ausdrückt, in dem man ein durchdringendes, andauerndes, aber dynamisches Gefühl des Vertrauens hat, dass die eigene interne und externe Umwelt vorhersagbar ist und dass es eine hohe Wahrscheinlichkeit gibt, dass sich die Dinge so entwickeln werden, wie vernünftigerweise erwartet werden kann“ (1997, S. 16).

Die drei zentralen Komponenten
des Kohärenzsinns sind:
Verstehbarkeit
als Ausmaß, in welchem Anforderungen als vorhersehbar oder zumindest
einzuordnen und erklärbar sind.

Handhabbarkeit
als Ausmaß, in dem man wahrnimmt, dass man geeignete Ressourcen zur Verfügung
hat, um den Anforderungen zu begegnen. Wer über ein hohes Maß an Handhabbarkeit
verfügt, wird nicht ewiges Opfer sein.

Sinnhaftigkeit
als motivationales Element in dem Sinne, dass diese Anforderungen Herausforderungen
sind, die Anstrengung und Engagement lohnen
(1997, S. 36).

Die Komponente der Sinnhaftigkeit hält Aaron Antonovsky selbst für die wichtigste. Dabei ist es entscheidend, ob es bestimmte Lebensbereiche gibt, die von subjektiver Sinnhaftigkeit sind. Nicht
jeder Mann und jede Frau muss beispielsweise die Lokalpolitik als bedeutsam erwählen.
Vier Bereiche hält er jedoch generell für das Erleben von Sinnhaftigkeit für entscheidend: die eigenen Gefühle, unmittelbare interpersonelle Beziehungen, die wichtigste eigene Tätigkeit und existentielle Fragen wie Tod, persönliche Fehler oder Konflikte.
Dabei stellt die Salutogenese nicht einfach die andere Seite der Medaille dar: „Ich denke tatsächlich, dass die pathogenetische Orientierung (Orientierung an der Entstehung von Krankheit, Monika Fröschl) ... nur einen geringen Teil der vor uns liegenden Daten erklären kann. Darüber hinaus hat ihre nahezu totale Dominanz viele einschränkende Konsequenzen“.
Aaron Antonovsky zitiert dazu eine Studie, die zeigt, dass die Sterblichkeit an Krebs für als depressiv klassifizierte Personen mehr als doppelt so hoch ist wie für als nicht-depressiv klassifizierte Männer und Frauen. Aber: die meisten Menschen in dieser Studie sterben nicht an Krebs (1997, 29/30). Er plädiert im weiteren dafür, nicht nur nach der Ätiologie (Entstehung) von Krankheiten, sondern nach individuellen Geschichten zu fragen. Wir könnten eine adäquatere Diagnose erzielen, wenn wir die Geschichte der Person mehr verstehen als den Erreger.

Schwimmen
im Fluss des Lebens


Aaron Antonovskys Ansatz ist deshalb herausragend, weil er anspruchsvoll und deutlich genug ist, um eine echte Diskussion hervorzurufen. Das Konzept beinhaltet Wissen aus verschiedenen Disziplinen und eignet sich daher für eine interdisziplinäre Zusammenarbeit.
Die Salutogenese ist aber oft nur modernes und griffiges Schlagwort für Bestehendes. Es wird von Ressourcen gesprochen, aber defizitär gedacht und vor allem gehandelt; Salutogenese wird gesagt, nach pathogenetischen Grundsätzen gehandelt. Ein entscheidender Vorteil der salutogenetischen Herangehensweise ist es, dass sie es ermöglicht, Leid und Tod einzubeziehen. Im pathogenetischen Verständnis geht es um die Beseitigung von Krankheit, Leid und Tod.
Eine schöne Metapher fasst die salutogenetische Orientierung bildlich zusammen: an einem Fluss kurz nach der Biegung werden ertrinkende Menschen herausgezogen. Medizin, Soziale Arbeit und Pflege widmen sich hingebungsvoll dieser Aufgabe. Sie schauen aber nicht darauf, was vor der Flussbiegung passiert. Ob etwa jemand oder etwas die Frauen und Männer in den Fluss stößt. Der Fluss ist der Fluss des Lebens. Die Salutogenese stellt die Frage, wie Mann oder Frau ein guter Schwimmer beziehungsweise eine gute Schwimmerin wird, um im Fluss des Lebens bestehen zu können (Antonovsky 1997, S. 91/92). Feldenkrais kann ein Weg zum guten Schwimmen sein.
Zusammenfassend weist die salutogenetische Perspektive einen hoffnungsvollen Weg in die Zukunft, weil sie auf die Ressourcen der Menschen vertraut.





Prof. Dr. Monika Fröschl lehrt an
der Katholischen Stiftungsfachhochschule
München und an der
Technischen Universität München.
Kontakt: m.froeschl@ksfh.de
Der vorliegende Text erschien in
erweiterter Form zunächst in der
„feldenkrais zeit“ - Ausgabe 4
(2003). Wir danken der Autorin
für die Nachdruckerlaubnis!



Literatur

Antonovsky, Aaron 1979: Health, stress and coping: New perspectives on mental
and physical well-being.
San Francisco

Antonovsky, Aaron 1997:
Salutogenese. Zur Entmystifizierung der
Gesundheit. Tübingen

Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft,
Forschung und Technologie
(Hrsg.) 1997
: Gesundheit und allgemeine
Weiterbildung. Beiträge zu einer
neuen Perspektive der Gesundheitsförderung.
Bonn

Capra, Fritjof 1995: Wendezeit.
München

Faltermaier, Toni/ Kühnlein, Irene/
Burda-Vierung, Martina 1998a
:
Gesundheit im Alltag. Weinheim

Faltermaier, Toni 1998b: Subjektive
Theorien und Konzepte von Gesundheit.
In: Flick, Uwe (Hrsg.): Wann fühlen wir
uns gesund? Subjektive Vorstellungen
von Gesundheit und Krankheit.
Weinheim, S. 57-69

Fröschl, Monika 2000: Gesund-Sein.
Integrative Gesund-Seins-Förderung als
Ansatz für Pflege, Soziale Arbeit und
Medizin. Stuttgart

Kleese, Rosemarie/ Sonntag, Ute/
Brinkmann, Marita/ Maschewsky-
Schneider, Ulrike 1992
: Gesundheitshandeln
von Frauen. Frankfurt

Pankofer, Sabine 2002: „Zeit erleben ...
oder: Der Körper ist schneller als die
Psyche“. FeldenkraisZeit 3: S. 25-29

Pieper, Barbara/Weise, Sylvia 1996:
Feldenkrais. Aufgaben, Tätigkeiten,
Entwicklung eines neuen Arbeitsfeldes.
Stuttgart

Schipperges, Heinrich/ Geue, Bernhard/
Vescovi, Gerhard/ Schlemmer,
Johannes 1988
: Die Regelkreise der
Lebensführung. Gesundheitsbildung in
Theorie und Praxis. Köln

WHO Weltgesundheitsorganisation 1986: Ottawa Charta for Health
Promotion. Genf


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