Stiftung LEBENSNERV,
FORUM PSYCHOSOMATIK 2/04
Kütemeyer hat auch intensive psychotherapeutische Behandlungen bei PatientInnen mit Multipler Sklerose durchgeführt, wie umfangreiche Protokolle und Reflexionen aus dem Nachlass zeigen.
Über eine dieser Behandlungen hat er kontinuierlich in einer Gruppe von Kollegen berichtet - vielleicht die Therapieform der Zukunft, wie Paul Vogel, Nachfolger Viktor von Weizsäckers auf dem Lehrstuhl für Neurologie in Heidelberg, der diesem Kreis angehörte, geurteilt hat.

Die „Therapieform der Zukunft“ sah unter anderem so aus, dass „mütterliche“ Betreuungspersonen in die Behandlungen integriert waren. Die Schwierigkeit der Behandlung MS-Kranker bestand nämlich darin, dass ihre seelische Not zunächst tief verborgen war, auch die Schwere der körperlichen Symptomatik von den Kranken verleugnet wurde. Sie zeigten ein entfremdetes Verhältnis zu ihren Gefühlen und ihrem Körper. In ihren Träumen jedoch fand sich eine ungestillte Bedürftigkeit nach Liebe und Anerkennung, gepaart mit Durchlässigkeit, symbiotischer „Identifikation mit dem Aggressor“ bis zur tödlichen Autoaggressivität.

Im intensiven Umgang mit den Kranken wurden diese Befunde biographisch verständlich: In der Kindheit waren nicht einzelne Bedürfnisse, sondern Bedürftigkeit an sich missachtet oder gar bestraft worden, sodass die späteren PatientInnen als Überlebensstrategie ihren Anspruch auf Zuwendung verleugneten und sich durch Fügsamkeit und „Altruismus“ die Liebe der Eltern erkauften. So entstand ein überangepasstes Selbst, das sich an den Forderungen anderer orientiert. Daneben lebt, abgespalten
und eingekapselt, das bedürftige „Kind“, weiter, verletzbar, auf Anerkennung wartend. Es meldet sich - wie ursprünglich bei der Mutter - vor allem in Form von Bedürftigkeiten des Körpers, die aber vom bewussten Selbst immer wieder nicht verstanden und unterdrückt werden.

Die „mütterlichen“ BetreuerInnen halfen den PatientInnen, ein Gefühl für ihren Körper zu entwickeln. Sie waren besonders dann unersetzlich, wenn in den Phasen heilsamer Auflösung der Autoaggression - mit heftigster aggressiver Abgrenzung vom Therapeuten - ihrem gleichzeitigen Bedürfnis nach wärmender und haltender Zuwendung Raum gegeben werden musste.



AutorInnen



Prof. Dr. med. Hans Wenzl,
Arzt für Neurologie und Psychiatrie,
Psychotherapie; Professor für
Psychiatrie an der Universität Siegen
i.R. .

Dr. med. Mechthilde Kütemeyer,
ehemalige Leiterin der Psychosomatischen
Abteilung im St. Agatha-
Krankenhaus, Köln. Tochter
von Wilhelm Kütemeyer.



Vgl. zu diesem Thema auch zwei Aufsätze, die in früheren
Ausgaben von FORUM PSYCHOSOMATIK erschienen sind:
Schaeffer, Friedtjov:
Durch Selbsterfahrung Abwehrkräfte mobilisieren. Zum Tode des
Heidelberger Arztes Heinrich Huebschmann.
FORUM PSYCHOSOMATIK 1/1996, 30-31 (Huebschmann war
ein langjähriger Mitarbeiter von Wilhelm Kütemeyer, d.Red.)

Kütemeyer, Mechthilde: Die Medizin braucht mehr weibliches
Denken (inkl. „Welche Heilmittel braucht die Medizin?“ - Thesen).
FORUM PSYCHOSOMATIK 1/2000, 44-53

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