Stiftung LEBENSNERV,
FORUM PSYCHOSOMATIK 1/00

Symposium zur Psychosomatik der Multiplen Sklerose - Erfahrungen, Konzepte, Perspektiven

von Sigrid Arnade

Teil 1 von 5 Teilen

Übersicht

Teil 1 Einleitung
Seriöse und unseriöse psychosomatische Aspekte bei der multiplen Sklerose
Teil 2 Zur Arzt-Patienten-Beziehung bei der multiplen Sklerose
Teil 3 Körpererfahrung und Krankheitsbewältigung
Ein Erfahrungsbericht über die Arbeit mit MS-Betroffenen
Teil 4 Lebendige Diskussionen, mehr Fragen als Antworten: Vier Arbeitsgruppen
Teil 5 Einen Teppich weben
Podiumsdiskussion: Pespektiven für Forschungsaktivitäten
Anmerkung

 


Einleitung

Allein die Zusammensetzung der TeilnehmerInnen sorgte für eine Atmosphäre, die anders war als auf ähnlichen Veranstaltungen. Am 24. Oktober 1992 trafen sich nämlich in Kassel knapp hundert interessierte Menschen, die etwa zur Hälfte selbst von multipler Sklerose betroffen sind und sich zur Hälfte beruflich für die Thematik interessieren. Fast zwanzig TeilnehmerInnen vereinigten beide „Qualifikationen“ in sich. Diese bunte, fachkompetente Mischung führte zu einem lebendigen, anregenden Austausch. „Nur auf diesem Wege werden Fragen und Bedürfnisse sämtlicher Beteiligten transparent,“ schrieb ein Referent nach dem Symposion und weiter: „Ich finde, dass in dieser Hinsicht der Kongress ein voller Erfolg war.“ Die angenehme lockere, offene Atmosphäre war nach Ansicht der beiden Stifterinnen Susanne Wolf und Sigrid Arnade auch darauf zurückzuführen, dass der Frauenanteil bei den Anwesenden mit über 60 Prozent für eine derartige Veranstaltung ungewöhnlich hoch lag.

Um allen, die aus den verschiedenen Gründen nicht dabei sein konnten, die Gelegenheit einer nachträglichen Teilhabe zu geben, planen wir, einen ausführlichen Tagungsband herauszugeben. (Der Tagungsband ist unter dem Titel „Psychosomatik der Multiplen Sklerose“ erschienen und kann bei der Stiftung angefordert werden; d. Red.) Auszüge aus den Referaten, den Arbeitsgruppenergebnissen und der abschließenden Podiumsdiskussion können Sie auf den folgenden Seiten nachlesen.

Seriöse und unseriöse psychosomatische Aspekte bei der multiplen Sklerose

Dr. Ulrich Schultz-Venrath von der Neurologischen Abteilung des Gemeinnützigen Gemeinschaftskrankenhauses Herdecke sprach als erster Referent des Tages zu diesem Thema.
Schultz-Venrath verdeutlichte zunächst die Probleme und methodischen Einwände, die eine seriöse wissenschaftliche Forschung zur Psychosomatik der MS erschweren. „Es stellt sich tatsächlich die Frage, ob es zur Zeit aus methodischen Gründen eine seriöse psychosomatische Forschung überhaupt geben kann. Als einzige Ausnahmen scheinen mir Einzelfallstudien oder kasuistische Darstellungen erlaubt zu sein, die wiederum dem Verbot jeglicher Verallgemeinerung unterliegen.“

Weiter wies der Referent darauf hin, dass eine psychologische Behandlung von MS-Betroffenen in der herkömmlichen MS-Literatur nicht vorkäme und selbst in der von der Deutschen Multiplen Sklerose Gesellschaft herausgegebenen Schrift „Therapien der Multiplen Sklerose“ fehle. „Wie groß die Verleugnung von psychosomatischen Zusammenhängen bei der MS ist, lässt sich etwa daran dokumentieren, dass das Nicht-Auftreten eines Schubes über einen Zeitraum von mehr als zehn Jahren einschließlich einer Konversion des pathologischen Liquorbefundes (Veränderung des krankhaften Befundes des Gehirn-Rückemark-Wassers, d.Red.) gelegentlich einen ärztlichen Kollegen zu der Behauptung verführt, dass es sich in diesem Falle dann nicht um die Diagnose MS gehandelt haben könnte.“

Gleichzeitig warnte Schultz-Venrath vor einer Idealisierung erfolgreicher psychotherapeutischer Beeinflussung, zu der er selbst nach anfänglichen positiven Erfahrungen geneigt habe.

Mit dem Vorbehalt, dass es sich nun allenfalls um Hypothesen handele, sagte er: „Für einen großen Teil der MS-Patienten scheinen nicht wenige Beobachtungen dafür zu sprechen, dass es sich bei der MS – neurodynamisch und psychodynamisch gesehen – um eine frühe Störung handelt, die auf der Ebene einer misslungenen Separation und/oder Individuationsentwicklung anzusehen ist.“ Zur Unterstützung dieser Hypothese führte er verschiedene Beobachtungen und Fallbeispiele an.

Abschließend fasste er zusammen: „Wenn wir Psychosomatik seriös bei multipler Sklerose anbieten wollen, dann heißt das für mich,

  1. dass wir zu verschiedenen Verlaufsstadien verschiedene psychotherapeutische Strategien benötigen, die von analytischer Psychotherapie über Körpertherapie bis zu Ich-stärkenden Ansätzen reichen können;
  2. dass man sich in regelmäßig stattfindenden Workshops über Konzepte und die Operationalisierbarkeit der Beobachtungen austauschen und sinnvolle Fragestellungen beforschen muss; und
  3. dass man alles Wissen und alle Kompetenz in den Dienst der Individuation dieser Patienten stellt, wenn diese es wünschen.“

In der anschließenden Diskussion unterstrich Schultz-Venrath, dass die moderne Psychosomatik zwar Spezifitätsmodelle ablehne, die davon ausgingen, dass bestimmte Konflikte zu bestimmten Krankheiten führen, solche Modelle seien für die Betroffenen häufig diffamierend, aber dennoch würden viele Psychosomatiker so denken. Er selbst könne sich des Eindrucks nicht erwehren, dass ein Großteil der MS-Patienten Schwierigkeiten mit der Individuation hätten. Dieser Eindruck müsse weiter geprüft werden.

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