Stiftung LEBENSNERV,
FORUM PSYCHOSOMATIK 1/00

Teil 2: "Symposium zur Psychosomatik der Multiplen Sklerose - Erfahrungen, Konzepte, Perspektiven" von Sigrid Arnade

Zur Arzt-Patienten-Beziehung bei der multiplen Sklerose

Zu diesem Thema sprach Privatdozent Dr. Hans Strenge von der Klinik für Neurologie der Universität Kiel. Ausführlich ging der Referent auf das Frühstadium der Erkrankung bis zur Diagnosestellung beziehungsweise bis zur Diagnosemitteilung ein. Er berichtete, dass Patienten sich teilweise nicht ernstgenommen fühlen, wenn die Ärzte die zunächst unspezifischen Symptome fehldeuten. Bereits in diesem Stadium könne das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patienten ernsthaft gestört werden.

Weiter wies Strenge darauf hin, dass die Mehrzahl der MS-Betroffenen eine frühe Aufklärung wünscht. Dennoch dauert es oft einige Zeit, bis der Patient oder die Patientin die Wahrheit erfährt. Strenge zitierte eine Studie aus dem Jahr 1984: „Zwischen erstem Arztkontakt und der Aufklärung vergehen im Durchschnitt dreieinhalb Jahre.“ Nicht selten führe eine verzögerte Diagnosemitteilung „zu einer tiefgreifenden Vertrauenskrise zum behandelnden Arzt.“ Strenge gab jedoch auch zu bedenken, dass ein Teil der Patienten damit zufrieden war, nicht so frühzeitig aufgeklärt worden zu sein. „Wenn man sich klar macht, was die Aufklärung ‚Multiple Sklerose‘ bedeutet, nämlich die mehr oder weniger unvorbereitete Konfrontation mit der Begrenztheit und Unvorhersehbarkeit der Zukunft, dann kann es auch nach der Diagnosesicherung und nach zusätzlicher Überlegung sehr wohl von Vorteil sein, den Patienten zunächst etwas genauer kennen zu lernen, bevor man ihm diese Nachricht überbringt.“

Auch die Art der Diagnosemitteilung, bei der es sich für die Patienten um eine emotionale Extremsituation handele, prägt laut Strenge die zukünftige Arzt-Patienten-Beziehung. Die Patienten wünschen sich nach seinen Angaben ausführliche Informationen in verständlicher Sprache bei einem Gespräch unter vier Augen. Strenge sprach auch die Nöte der Ärzte an: „Es ist durchaus nicht ehrenrührig, im Gegenteil, im Umgang mit MS-Patienten eigene Ängste zu spüren und wahrzunehmen, eventuell als eigene Bedrohung zu empfinden, als Ausdruck einer empathischen Haltung oder partiellen Identifikation mit den schwierigen Lebensumständen des anderen Menschen.“

Für den weiteren Krankheitsverlauf gibt es keine gesicherten Aussagen über die Bedeutung einer intensiven Arzt-Patienten-Beziehung. Strenge erwähnte in diesem Zusammenhang eine dreijährige Doppelblindstudie, bei der in den USA die Wirkung von Immunsuppressiva und Kortison erforscht werden sollte. Bei dieser Studie schnitt die Kontrollgruppe, die keine wirksamen Medikamente erhielt, unerwartet gut ab und „schlug damit ungewollt den Statistikern der Studie ein Schnippchen“. Sämtliche Patienten der Studie wurden überdurchschnittlich betreut: mit zusätzlichen Angeboten zur Beschäftigungstherapie, psychologischen Beratungsgesprächen und Gruppentherapie. Die Planer der Studie sahen diese Maßnahmen jedoch nicht als relevant an. Strenge folgert anders: „Eine positive Auswirkung auf den Krankheitsverlauf kann möglicherweise allein schon durch eine intensive Betreuung erreicht werden: im zitierten, konkreten Fall durch eine langjährige, stabile Arzt-Patienten-Beziehung, die Sicherheit gewährt und Kontaktangebote macht.“

Für die langfristige Patientenbetreuung schloss sich Strenge der Auffassung des Londoner Psychsomatikers Paulley an. Dieser unterbreitet den MS-Betroffenen lediglich das Angebot eines regelmäßigen Kontaktes, überlässt es aber ganz dem einzelnen Patienten, die Modalitäten der Beziehung zu bestimmen. Dadurch sieht Paulley eine größtmögliche Autonomie der MS-Patienten ind diesem Bereich gewährleistet.

Abschließend setzte Strenge seine Ausführungen in Beziehung zu den Forschungsergebnissen der Psychoneuroimmunologie. Es ist inzwischen bekannt, dass bestimmte belastende Ereignisse individuell unterschiedlich das Immunsystem modulieren können. Daraus folgerte der Referent, dass durch eine geglückte Arzt-Patienten-Beziehung ein zusätzliches immunologisches Risiko möglicherweise auf ein Minimum reduziert werden könne.

Dr. Irene Misselwitz; Oberärztin in der Universitätsklinik für Neurologie und Psychiatrie in Jena stellte anschließend die Kasuistik eines MS-Patienten vor, den sie seit 1987 psychotherapeutisch begleitet. Ihre eigenen Beobachtungen ergänzte sie anschaulich durch Bilder des Patienten und seine schriftlich festgehaltenen Überlegungen. (Diese Kasuistik können Sie unter dem Titel „Zerstören oder zerstört werden“ in voller Länge ab S.58 in dieser Ausgabe lesen; d. Red.)

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