Stiftung LEBENSNERV, FORUM PSYCHOSOMATIK 1/00 |
von Werner Sattmann-Freese
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Übersicht
Die MS ist eine Krankheit, die bestimmt ist einerseits von klinischen Charakteristika wie Schwäche, Vertigo (Schwindel, rotierende Bilder), vereinzelter Taubheit, unkoordinierten Bewegungen und anderen Merkmalen, andererseits durch einen spezifischen pathologischen Verlauf, bei dem die Myelinscheiden, die die Nerven umgeben, von dem eigenen Immunsystem des Patienten angegriffen und zerstört werden. Die herkömmliche Medizin hat die Ursache der Krankheit als eine autoimmune Reaktion diagnostiziert. Dies lässt natürlich die Frage unbeantwortet: Warum sollte der menschliche Körper sein eigenes Gewebe angreifen und diese schweren Symptome hervorrufen?
Ich stelle die neueren wissenschaftlichen Ergebnisse der orthodoxen Medizin nicht in Frage: Sie sind in ihrem Rahmen korrekt. Vielmehr versuche ich, die MS als einen psychosomatischen Ausdruck unbewusster und ungelöster Konflikte zu beschreiben oder als den physischen Ausdruck des Schattens darzustellen (Jungsche psychologische Terminologie).
Die herkömmliche Medizin beschäftigt sich mit der Beschreibung von Symptomen, ihren pathologischen Strukturen und der Verabreichung von Arzneimitteln. Esoterische Medizin sieht die Krankheit als eine Schöpfung des wahren Selbst, die den Patienten auf die innere emotionale Realität aufmerksam machen will. Die MS auf eine ganzheitliche Weise zu betrachten, bedeutet, die Natur der Konflikte zu verstehen, mit denen der Patient beschäftigt ist.
In der somatischen Therapie haben wir gelernt, dass die Leute meinen, man müsse gegen Krankheiten ankämpfen. Krankheiten werden als etwa Überflüssiges betrachtet, das zu beseitigen ist, anstatt sie als Ausdrucksmöglichkeiten von Qualitäten zu sehen, die im emotionalen Leben eines Menschen fehlen. Dementsprechend haben wir gelernt, unser defektes Organ oder Körperteil zu hassen, obwohl wir es auch als einen Lehrer und unseren vertrautesten Freund betrachten könnten, der tatsächlich für uns sorgt. Da dieser Freund uns die unerwünschte Wahrheit sagen könnte, dass wir nämlich Ärger oder Angst verdrängen oder dass wir bedürftig sind, leugnen wir alle Verbindungen zwischen unseren Symptomen und Gefühlen und schlucken lieber ein Medikament oder Vitamine. John Harrison beschreibt in seinem Buch Love Your Disease, wie wir unbewusste Verträge mit unseren Ärzten schließen: Wir wollen, dass sie unsere Symptome beseitigen, uns aber mit unseren emotionalen Ursachen alleine lassen.
Um eine Krankheit überflüssig zu machen, muss man lernen, sich mit dem defekten Organ anzufreunden. In einem Dialog wird es einen zu den vergessenen Gefühlen führen. Wenn man es wagt, diese Gefühle zu integrieren, wird die Notwendigkeit zum Kranksein verschwinden.
Während der frühesten Lebensphase ist ein Kind noch emotional mit seiner Mutter verschmolzen. Es ist vollkommen abhängig von ihrer Liebe. Die Myelinscheiden, die die Nerven des Babys umgeben, sind noch nicht vollständig entwickelt. Seine Beine sind schwach, und es kann seinen Schließmuskel nicht kontrollieren.
Wenn das Baby älter wird, werden die Nerven voll funktionsfähig. Es entwächst der Verschmelzung und beginnt, sein eigenes Ego zu entwickeln. Es bringt sein Bedürfnis nach Trennung zum Ausdruck und möchte, dass Dinge in der eigenen Art und nach dem eigenen Rhythmus geschehen.
Unglücklicherweise können einige Mütter nicht mit der Abhängigkeit ihrer Babys umgehen. Sie fühlen sich durch die Bedürfnisse des Babys überfordert und versuchen, die Babys zur Unabhängigkeit zu drängen. Um den Schmerz darüber, dass Bedürfnisse nicht erfüllt werden, zu ertragen, beschließt das Kind, nie wieder bedürftig, nie wieder von anderen abhängig zu sein. Als Erwachsener wird dieser Mensch immer noch unter diesem Konflikt mit der Abhängigkeit leiden, wird aber aus gutem Grund den Schmerz jener frühen Jahre verbergen.
Der Kampf gegen Bedürftigkeit und Abhängigkeit wird viele Gesichter bekommen. Wenn Menschen viele Jahre lang ihre Bedürfnisse verdrängen und es ausschließen, unterstützt zu werden, kann der emotionale Frustrationsdruck ein Ausmaß bekommen, welches die Unversehrtheit des Lebens dieses Menschen bedroht. Dann kommt möglicherweise das wahre Selbst zum Vorschein und löst einen MS-Schub aus, beispielsweise schwache Beine. Die Tatsache, dass es nun annehmbar ist, bedürftig zu sein und umsorgt zu werden, stellt für den gestressten Organismus eine Erleichterung dar, obwohl das Ego in Panik verfallen wird, weil das defekte Körperteil ihn oder sie daran hindern wird, den eigenen Ansprüchen an sich selbst gerecht zu werden.
Die Störung durch die MS verleiht dem Menschen auf diese Weise die emotionale Qualität, die dringend benötigt wird. Sie sorgt für einen gesicherten Raum für das Bedürfnis, abhängig zu sein. Dies ist ein deutliches Beispiel für die Spaltung der Persönlichkeit eines Menschen, die allen Krankheiten zugrundeliegt. Das Ego ist nicht in Verbindung mit den Bedürfnissen und Gefühlen des Menschen.
Später, wenn das Kind sein eigenes Ego entwickelt, wird es Trotzphasen durchleben. Wenn es seine eigenen Grenzen entwickelt, wird es manchmal seine Eltern ablehnen müssen. Es gibt Eltern, die mit dieser Ablehnung nicht umgehen können und die ihren Kindern nicht erlauben, ihre eigenen Grenzen zu ziehen. Sie verletzen die Grenzen und zwingen das Kind durch Erpressung, ja zu sagen, obwohl es tief in sich ein nein fühlt. Das Kind gerät in einen Konflikt Wenn ich nein sage, werden sie mich nicht lieben; wenn ich ja sage, kann ich mich selbst nicht lieben.
Der Erwachsene mit MS leidet immer noch unter diesem Konflikt, und er oder sie wird die Erfahrung machen, dass viele Leute seine oder ihre Grenzen verletzten. Wenn der Mensch es nicht lernt, sich selbst zu schützen, kann das wahre Selbst früher oder später wieder in Erscheinung treten und etwas schaffen, was ich grenzbildende Symptome nennen würde. Der Körper, der eine taube Haut oder überspannte Bauchmuskeln hervorbringt, versucht verzweifelt, die Grenzen wiederherzustellen, wozu der Mensch sonst nicht in der Lage ist. Die Symptome dienen emotional und sozial als Schutz, aber gleichzeitig behindern sie den Patienten. Die Krankheit ist der Preis, den ein Mensch ohne Grenzen für sein Überleben zahlen muss.
Einige MS-Patienten leiden unter Spastik oder Zittern der Gliedmaßen. Die unausgesprochene Botschaft hinter diesen Symptomen scheint folgende zu sein: Ich will mich nicht für Dich bewegen. Die Lebensgeschichte offenbart, dass Bewegung eher mit Forderungen und Leistungen verbunden wurde als mit Freude. Die Spastik und das Zittern sollten als gesunde Reaktion eines Menschen betrachtet werden, der vor langer Zeit darauf verzichtet hat, sein Leben zur eigenen Freude zu leben und sich im eigenen Rhythmus zu bewegen.
Einige MS-Patienten leiden an schwachen Beinen. Der Lebensbericht von Menschen mit diesem Symptom spricht dafür, dass sie glauben, sich davor schützen zu müssen, energiemäßig ausgelaugt zu werden. Nur indem sie die Krankheit benutzen, scheinen sie ihre Lebensenergie erhalten zu können.
Die beschriebenen Mechanismen sollten als Orientierungshilfen für das Verständnis dieser Krankheit gesehen werden. Die Symptome oder ihre Konstellation variieren stark und müssen bei jedem Patienten individuell ergründet werden.
Vor fünf Jahren, als ich für die deutsche MS-Gesellschaft als Körpertherapeut arbeitete, hatte ich einen jungen Mann in einer Gruppe, dessen einziges Symptom das Zusammenpressen seiner Oberschenkel war. Ein Gummikeil schützte seine Knie vor Verletzung. Diagnostiziert als MS-Patient, machte er auf mich den Eindruck, als müsse er seine Genitalien schützen. Er erzählte uns, dass seine Beine im Bett entspannt seien. Als ich seine Beine während der Sitzung mit einer Decke zudeckte, konnte er seine Oberschenkel entspannen. Dieser Mann lernte, dass er aktiv seine Oberschenkel und Genitalien schützen musste, um die Spastik zu lösen. Eine Heilung im tieferen Sinne hätte sicherlich die Integration unterdrückter Gefühle im Zusammenhang mit einem sexuellen Übergriff beinhaltet. Ich erwähne diesen Patienten, weil er ein hervorragendes Beispiel dafür ist, wie spezifisch Symptome sein können und wie offensichtlich sie mit emotionalen Erfahrungen verknüpft sind.
Die Lebensgeschichten von MS-Patienten sind bewegend. Es gibt Menschen, die das Gefühl haben, hinter ihren starren Bauchmuskeln sei der einzig sichere Platz für sie zu existieren. Andere bekommen einen MS-Schub, um eine Weile einer Partnerschaft zu entfliehen, in der Liebe mit Verschmelzung und Klammern verwechselt wird. Oder da ist die Frau, die zwanghaft alles absolut korrekt macht die dann eine Spastik entwickelt. Bei ihr scheint die MS das eindrucksvolle Ende ihres zwanghaften Perfektionismus zu sein.
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